Toter geht's nicht
Gesprächspartner nicht sehen zu können.
«Ja?» So schlicht melde ich mich, wenn das Display meines Telefons «Intern» anzeigt.
«Was heißt hier Ja? Ich kenne keinen Herrn Ja.»
Mein Vater. Zum Eintritt in den Ruhestand vor neun Jahren hat er sich eine interne Telefonleitung vom Polizeipräsidium in sein Zuhause nach Rudingshain legen lassen. Er wolle den Kontakt nicht so jäh abbrechen lassen und stehe jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung. Natürlich nicht, um sich aufzudrängen, aber wenn man ihn rufe und brauche und auf seine langjährige Erfahrung als Polizeikriminaler und Präsident bauen wolle, dann sei er da, sagte mein Vater bei seiner Verabschiedung.
«Meldet man sich also inzwischen in dieser Form als Kriminalhauptkommissar? Man geht also nicht mehr her und nennt seinen Namen und Dienstgrad?»
«Ach, hallo, Vater … nee, doch, natürlich. Aber wir haben doch jetzt diese neuen Telefone, wo man sieht, ob einer ‹intern› oder ‹extern› anruft. Wenn also einer ‹intern› aus dem Präsidium diese Nummer wählt, dann melde ich mich halt …»
«Und ich wohne im Präsidium? Das wäre mir neu.»
«Nein, aber du hast dir doch damals eine interne Leitung legen lassen. Und daher sehe ich auf dem Display …»
«Habt ihr nicht Besseres zu tun?»
«Besseres als was?»
«Als herzugehen und euch mit Telefonleitungen zu beschäftigen. Hat man keinen Mordfall aufzuklären?»
Das sind die Fragen meines Vaters, auf die es nie Antworten gibt.
«Welche Erkenntnisse, Ergebnisse et cetera pp hat man schon? In welche Richtung laufen die Ermittlungen?»
«Ja», sage ich.
«Dann ist ja gut», sagt mein Vater. «In den ersten Stunden und Tagen der Ermittlungen entscheidet sich zumeist, wie, ob und in welcher Zeit sich der Fall klären lassen wird. Mit kühlem Kopf und klarem Gedankengut muss nun an die Arbeit gegangen werden, nicht wahr?»
«Ja», sage ich wieder.
«Dann ist ja gut. Vielleicht kann man auch mal hergehen und sich mal wieder bei der Mutter melden, soll ich ausrichten. Sie sorgt sich, da sie längere Zeit nichts gehört habe.»
Dann soll sie doch anrufen, denke ich. Macht sie aber nicht. Denn dann kann sie sich ja nicht darüber ärgern, dass sie nicht angerufen wird.
«Und noch was, Junge …»
«Ja?», sage ich.
«Das Gespräch dauert schon viel zu lange. Jede Minute ist kostbar. In den ersten Stunden und Tagen der Ermittlungen entscheidet sich zumeist, wie, ob und in welcher Zeit sich der Fall klären lassen wird. Man sollte jetzt mal an die Arbeit gehen.»
«Ja», sage ich.
«Dann ist ja gut», sagt mein Vater und legt auf.
Im Winter ist es in diesem Büro immer zu kalt. Die Heizung schafft es nicht, eine angenehme Temperatur zu kreieren, wie Louis van Gaal sagen würde. Draußen pfeift ein kalter Wind. Das tut er oft hier im bergigen Vogelsberg. Einem Mittelgebirge, das in seiner Mittelmäßigkeit seinem Namen alle Ehre macht, meinen viele gehässige Kleingeister. Im Winter könne man hier aber immerhin Ski fahren, entgegne ich dann oft. Wenigstens ein bisschen. Ich gebe zu, dass es gelegentlich zu wenig Schnee gibt, und wenn es mal wie in diesem Winter üppig geschneit hat, ist meist die Liftanlage defekt. Hier macht man selten seinen Jahresurlaub, gebe ich zu, aber immerhin Ausflüge. Im Sommer kann man wandertrekken, fahrradbiken, sommerrodeln oder als lederbekleideter Motorrad-Spießer es toll finden, mit albernen Stinkrädern die Berge rauf- und runterzubrettern, um dann in an Hauptstraßen gelegenen Landgasthäusern Weizenbier zu trinken, Schnitzel zu essen und schlechte Musik zu hören. Der Vogelsberg lässt sich offiziell als «Größter Vulkan Mitteleuropas» feiern und verweist nicht ohne Stolz darauf, dass er an Durchmesser und Fläche den Ätna aber mal ganz locker in die Tasche steckt. Nur eines tut er sicher nicht mehr, der Vogelsberg: ausbrechen. Das hat der erloschene Vulkan mit seinen heutigen Bewohnern gemein. Er weiß, was er an sich hat. Das gefällt mir so. Die weite, raue, unaufgeregte und manchmal karge Landschaft genügt sich selbst und braucht keine modernistischen Veränderungen und erst recht keine Ausbrüche.
Teichner ist bestimmt auch ein Biker, denke ich, während ich zu ihm hinüberblicke. Ich stelle ihn mir in engen Lederhosen vor und wechsle schnell das Gedankenthema.
Teichner ist eifrig. Er telefoniert eine Liste ab, mit Personen, die Klaus Drossmann gekannt haben könnten aus der Zeit, als er hier im Vogelsberger Schotten gelebt
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