Toter geht's nicht
dauernde Unzufriedenheit hat uns zermürbt. Unzufrieden mit sich selbst, unzufrieden mit dem anderen. Henning hätte wahrscheinlich nie Polizist werden dürfen. Nicht mit dem Vater. Er weiß es, doch er ändert ja nichts. Er wird von Tag zu Tag immer zynischer. Und er merkt es nicht einmal. Und ich hätte es versuchen sollen, mit der Musik. Ich hätte ruhig scheitern können, doch ich hätte es wenigstens versucht. Zur Konzertpianistin hätte es mit Sicherheit nicht gereicht, aber irgendetwas wäre daraus geworden. Ich hatte solche Angst, dass meine Hände zittern würden, beim Vorspielen, wenn es darauf ankam. Ich wollte den Druck nicht. Ich wollte nur spielen. Ich habe mich nicht getraut. Jetzt ist es zu spät, jetzt bin ich bald vierzig. Jetzt spiele ich gar nicht mehr, weil es mir wehtut, dass ich nicht mehr annähernd das Niveau habe, das ich vor fünfzehn Jahren hatte. So eine verdammte Scheiße.
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12. KAPITEL
«Der Leistungsstand Ihrer Tochter Melina in den Fächern Mathematik, Englisch und Physik ist ‹Mangelhaft›. Bei gleichbleibenden Leistungen ist die Versetzung in Klassenstufe 9 ausgeschlossen. Um Rücksprache wird gebeten.
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Jung, Klassenlehrer 8e»
Eine Woche lang lag der Zettel in Melinas Rucksack. Nun liegt er zerknittert auf dem Küchentisch, und ich sitze im gleichen Zustand davor. Soll ich jetzt die große Standpauke halten? Soll ich nun harte Konsequenzen daraus ziehen und Melina mit Hausarrest oder Ähnlichem bestrafen? Ich, der in der 8. Klasse mit vier Fünfen die Ehrenrunde drehte?
Melina sitzt mir gegenüber, hat die Arme fest vor ihrer Brust verschränkt, die Beine unter dem Tisch ausgestreckt und starrt auf ihre Fußspitzen.
«Das ist voll unfair. Der Jung kann mich nur net leiden. Die anderen sind auch nicht besser, aber ich krieg dann wieder die 5.»
Wieder einmal hat sich die ganze Welt nur gegen meine Tochter verschworen.
Eine typisch pubertäre Haltung; ich teile sie bis heute.
«Schule ist so fuck scheiße», zischt Melina, womit sie vermutlich recht hat, was aber niemanden in der Sache weiterbringt. Ich versuche mich verzweifelt in die Rolle des fast Vierzigjährigen mit Erziehungsauftrag zu hieven und suche nach wegweisenden, haltgebenden Sätzen. Mir fallen keine ein. Dann sage ich: «Ich bestell jetzt Pizza, willste auch eine?»
Drei Tage später sitze ich im Zimmer der 8e dem Klassenlehrer gegenüber, der Melina in Mathematik und Physik unterrichtet. Noch immer habe ich mich nicht daran gewöhnt, dass viele Lehrkräfte inzwischen wesentlich jünger sind als ich. Auch Herr Jung ist jung. Vielleicht Anfang dreißig. Er schaut mich mit müden Augen an. Ich schaue mit müden Augen zurück.
«Melina ist ja eigentlich ein nettes Mädchen», sagt Herr Jung. «Aber im Moment ist es wirklich schwierig …»
Dann macht er eine Pause und schaut mich an, als ob ich mich dafür entschuldigen müsste.
«Das war mal so eine nette Klasse. Seit einem Jahr aber ist es ganz schwierig …» Wieder Pause.
«Ja», sage ich, um etwas zu sagen.
«Es ist ganz schwierig, sie zum Lernen zu motivieren. Da kommt nicht viel zurück. Und Melina ist nicht wirklich an den Lernstoffen interessiert. Das macht das Arbeiten schon schwierig …»
«Das stelle ich mir schwierig vor», sage ich dann.
«Ja, genau», erwidert Matthias Jung und fühlt sich verstanden.
«Melina stört den Unterricht, beteiligt sich nie und hat in den Arbeiten, in Mathe und Physik, eine 5 geschrieben.»
Nun schaut er vorwurfsvoll. Wie kann eine Schülerin ihm nur so etwas antun, wo er doch den Jugendlichen so packenden Unterrichtsstoff wie das Ohm’sche Gesetz zu bieten hat.
«Ja, ich weiß. Deswegen bin ja hier», sage ich.
«Hm», macht er dann. «So kann ich ihr schwierig eine 4 geben. Das wäre dann den anderen Mitschülern gegenüber ungerecht …»
Nun schaut er mich an, als bäte er um Verzeihung. Langsam beginnt der Kerl mich zu nerven.
«Da muss schon mehr kommen. Sonst kann es echt schwierig werden mit der Versetzung. In Englisch steht sie ja auch auf 5. Ich weiß nicht, was ich machen soll …», jammert er weiter und zeigt mir ein sehr belastetes Gesicht.
«Ich aber», platzt es aus mir heraus.
«Wie bitte?»
«Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollen, dann weiß ich es. Sie sollen Ihren verdammten Job tun. Sie sind ein gutbezahlter Lehrer, Sie sind ein Pädagoge, und ich erwarte von Ihnen als Melinas Klassenlehrer, dass Sie meine
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