Toter geht's nicht
herum. Mein Vater ist für die Getränke zuständig. Dies war und ist seine einzige häusliche Aufgabe, die er umso gewissenhafter ausführt. Melina bekommt die gewünschte Cola, Laurin eine Apfelschorle, ich einen Kaffee und Berlusconi Wasser.
«Melinchen, mach dir nichts draus», sagt meine Mutter. «Du weißt ja, dein Opa meint das nicht so.»
Doch, er meint es genau so.
«So ganz ohne Mutter, das ist für das Kind auch nicht leicht», sagt sie leise zu meinem Vater. Melina hört es trotzdem. Meine Mutter konnte die Lautstärke ihrer Stimme noch nie einschätzen. Als Kind war es mir oft peinlich, wenn sie in der Supermarktschlange über die Kassiererin lästerte.
«Du liebe Güte, du wirst ja eine richtige Frau», sagt sie dann mit Blick auf Melinas Brustansatz.
«Jetzt lasst sie doch bitte einfach in Ruhe», mische ich mich ein.
«Was habe ich denn jetzt wieder falsch gemacht? Ich habe ihr doch nur ein Kompliment gemacht. Ist das jetzt auch wieder nicht in Ordnung?»
«Doch, ja, nein, also …», antworte ich und entscheide mich dafür, nicht weiterzureden, da meine Mutter es ohnehin schon tut. Währenddessen nehmen wir nun alle Platz auf der schwarzledrigen Couchgarnitur. Meine Eltern auf ihren Sesseln, Melina, Laurin und ich auf dem Dreisitzer. Der dritte Sessel bleibt frei.
«Ich weiß, dass die jungen Menschen in Melinas Alter eine schwierige Zeit durchmachen», quakt meine Mutter unbeirrt weiter. «Das brauchst du mir nicht erzählen, Henning. Ich habe selber zwei Kinder großgezogen. Die Pubertierenden sind auf der Suche, stimmt’s, Melina?»
«Häh?», macht Melina.
«Die haben Fragen, sind oft orientierungslos. Und da müssen die Eltern ihnen Antworten geben. Halt verschaffen. Pubertät ist aber auch keine Entschuldigung für alles. Deine Schwester war auch manchmal etwas vorlaut. Es ist nicht so, dass ich mich daran nicht erinnern könnte. Das war nicht immer …»
«Bei der Arbeit alles klar?», fragt mein Vater.
«Ja», antworte ich, während meine Mutter sich von ihrem Sessel erhebt und auf dem Weg zur Küche weiterredet.
«Dann ist ja gut», sagt mein Vater.
Meine Mutter kehrt mit der Kuchenplatte in der Hand zurück. Wie immer hat sie selber gebacken, dabei hasst sie Kuchenbacken.
Da sich Melina wie fast alle ihrer Altersgenossinnen zu dick fühlt, möchte sie keinen Kuchen.
«Wie?», fragt meine Mutter. «Keinen Kuchen?»
«Nee, hab keinen Hunger», sagt Melina.
«Nein danke, heißt das, Melina, nein danke. So viel Zeit muss sein, nicht wahr?», sagt mein Vater.
Melina bleibt cool. Sie kennt das und weiß, dass es am Ende meist zehn bis zwanzig Euro gibt. Nur dafür kommt sie überhaupt mit.
«Ich habe gerade in der Frankfurter Allgemeinen einen interessanten Artikel über Magersucht und Bulimie bei jungen Mädchen gelesen», meldet sich meine Mutter. «Den müsst ihr unbedingt lesen. Ich habe ihn ausgeschnitten. Ich gebe ihn euch mal mit.»
«Gute Idee», sage ich. «Ich lese ihn dann heute Abend Melina als Gute-Nacht-Geschichte vor.» Melina kichert. Unsere Blicke treffen sich. Für einen kurzen Augenblick sind wir ein Team.
Meine Eltern waren noch nie die Sorte Opa und Oma, die ihre Enkel nach Strich und Faden verwöhnt haben. Die wenigen Male, die Franziska und ich unsere Kinder zu ihnen brachten, hatte ich immer das Gefühl, sie fallen ihnen zur Last. Vielleicht täusche ich mich auch. Jedenfalls kam es mir häufig so vor.
«Wie geht’s denn dem Laurin im Kindergarten?», fragt meine Mutter, um nun doch die Themengebiete Pubertät und Magersucht zu verlassen. Laurin spielt auf dem Fußboden lustlos mit der Duplo-Eisenbahn, die er schon als Zweijähriger langweilig fand.
«Gut», antworte ich.
«Dann ist ja gut», sagt darauf mein Vater. «Und, bei der Arbeit alles klar?»
«Schlecht siehst du aus, Junge», sagt meine Mutter.
«Nein danke», sage ich.
Das Gesunde am Rauchen ist, dass man in Situationen, die unerträglich zu werden scheinen, immer einen guten Grund hat, den Raum zu verlassen, an die frische Luft zu gehen und tief durchzuatmen. Wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch bin, rauche ich sehr viel.
So stehe ich heute zum sechsten oder siebten Mal frierend auf der Terrasse, zünde mir eine Zigarette an und warte darauf, dass der Besuch langsam endet und der Frühling kommt. Stattdessen kommt mein Vater und stellt sich zu mir.
«Der Winter ist auch nicht mehr das, was er mal war. Entweder ist es zu kalt oder zu mild, oder?»
«Hmm», antworte
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