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Toter geht's nicht

Toter geht's nicht

Titel: Toter geht's nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faber Dietrich
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gehen, auch wenn sie in dieser Angelegenheit eine andere Meinung vertritt. Zu reizvoll wäre ein weiterer kompletter Multitasking-Freizeit-Tag mit Unterschichtenfernsehen, Internet und Telefon gewesen. Doch wie alle Eltern teile auch ich die Sorge, dass dieser übermäßige Medienkonsum meinem Kind schaden könnte. An das «Alter» am Ende eines jeden Halbsatzes habe ich mich schon gewöhnt, mit «Digger» und «Du Opfer» habe ich noch Schwierigkeiten. Irgendwo müssen die das doch herhaben.
    Ich spüre ein starkes Verlangen, wieder mit Sandra zu chatten. Diese Mischung aus Vertraulichkeit und Anonymität finde ich reizvoll. Es gibt in diesem Kontakt keine Verpflichtungen, keine Erwartungen. Ich kann ihn jederzeit abbrechen, ohne Tamtam. Was ist das nur für eine Frau? Und was will ich eigentlich von ihr? Wo soll das alles hinführen? Viel zu viel Gedanken, die ich mir da mache. Bei meinen Brustschmerzen weiß ich gar nicht, ob ich den nächsten Tag überhaupt noch erlebe.
    Ich bringe Laurin ins Bett, lese ihm ein Willi-Wiberg-Buch vor und frage mich, ob es gut ist, bei einem Infarkt Rotwein zu trinken. Ich setze mich über meine Zweifel hinweg und trinke einen Schluck Merlot, warte kurz und stelle fest, dass ich noch immer lebe, und trinke das Glas leer. Ich stelle mich auf die Terrasse, blicke in den dunklen Vogelsberg und zünde mir eine Zigarette an. Auch die überlebe ich, obwohl auf der Packung etwas anderes steht.
     
    Wenig später höre ich verstimmte, avantgardistische Klänge aus Franziskas Flügel. Melina hat sich daran gesetzt. Das hat sie jetzt schon einige Male getan. Sie setzt sich an den Flügel und spielt, ohne es zu können.
    Franziska war richtig gut. Sie spielte wie eine Göttin. Ja, so war es, auch wenn es albern klingt. Sie übte früher manchmal fünf Stunden am Tag. Genervt hat es mich nie. Genervt hat sie, als sie aufhörte. Als ihr klar wurde, dass das mit dem Konzertpianistinnenstudium nicht klappt, hat sie immer weniger gespielt, bis sie irgendwann ganz aufgehört hat. Ganz oder gar nicht, hopp oder topp.
    Ich drücke meine Zigarette aus, gehe zurück ins Haus und beobachte von der Tür aus, wie meine Tochter am Flügel sitzt. Sie spielt mangels Alternativen so eine Art Freejazz. Als sie mich sieht, sagt sie: «Klavier ist geil.»
    «Ja», sage ich darauf. «Willst du’s lernen?»
    «Keine Ahnung. Mama kann das doch saugut, ne?»
    «Ja, das stimmt», antworte ich.
    Melina hat sie vermutlich nie richtig spielen gehört. Nur an Weihnachten, «Ihr Kinderlein kommet».
    «In der Schule soll es eine Mädchenband geben», sagt Melina. «Und die brauchen noch ’ne Keyboarderin. Wenn ich Klavier kann, kann ich auch Keyboard, oder?»
    «Ja, klar.»
    «Fett.»
    Mir fällt ein, dass die Keyboards im Polizeilager noch aus Klaus Drossmanns Probenraum herumstehen.
    «Wenn du willst, kann ich dir morgen mal leihweise ein Keyboard mitbringen, so zum Ausprobieren.»
    «Echt? Cool!»
    Dann springt sie auf, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet in ihrem Zimmer. Meine Brustschmerzen sind verschwunden.
     
Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich hingerichtet werde. Man hat mich auf einen elektrischen Stuhl gesetzt. Hunderte von Kindern haben zugeschaut und laut gebrüllt. Ich wollte «Ruhe» schreien, doch ich konnte nicht.
Furchtbar.
Es ist gewissermaßen auch ein Psychotrip, den ich hier oben in den Bergen erlebe. So allein.
Seit fast einem Monat sehe ich kaum einen Menschen. Ich gehe alle drei Tage im Tal einkaufen oder grüße einen Bergbauern, das war’s dann aber auch schon. Sonst sehe ich auf diese Berge. Denen kann ich nichts vormachen. Denen brauche ich nichts vorspielen. Die bringt nichts aus der Ruhe.
Wenn ich nach Hause komme, werde ich mich all dem stellen, was auf mich zukommt. Ich werde zu dem stehen, was ich getan habe, und dazu, wie ich bin. Nehmt es dann alle so hin oder lasst es sein.
Ich weiß nicht, ob ich zurück in die Schule gehen werde. Eigentlich kann ich es mir nicht mehr vorstellen. Ich wollte mir das nie eingestehen. Das ist dort nicht mein Tempo. Das geht mir alles zu schnell. Das ist mir alles zu laut. Ich habe gestern lange darüber nachgedacht, wie ich als kleines Kind oft nur still in der Ecke saß und den anderen Kindern beim Spielen zuguckte. Wie lange es dauerte, bis ich selber ins Geschehen eingriff. Schon damals ging mir eigentlich alles zu schnell. Was ich gut konnte, war, mich stundenlang in eine einzelne Tätigkeit zu vertiefen. Ich konnte

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