Toter geht's nicht
stundenlang ein Bild malen oder mich am Klavier an einem Stück abarbeiten. Irgendjemand muss mir dann eingeredet haben, dass das so nicht richtig ist. Dass das Leben anders funktioniert. Ich muss es geglaubt haben. Ich habe gegen mich gekämpft. Und dann gegen Henning. Gegen alle. Und dann pfeift eben auch mal ein Ohr. Warum nur ist es so schwer, sich und den anderen einfach sein zu lassen? Je länger ich hier bin, desto besser meine ich so einiges zu verstehen. Ob es mir allerdings auch bessergeht? Was weiß ich.
Meine Güte, Sennerin in einer Berghütte mit Konzertflügel, das wär’s doch. Nur nicht mehr so alleine.
Ich weiß, dass ich eine schlechte Mutter bin. Damit werde ich leben müssen. Doch ich werde irgendwann wieder da sein. Aber anders. Nicht mehr Allegro, sondern Largo. Nicht mehr Wagner, sondern Mozart.
Warum eigentlich liegen ihre Noten noch immer auf dem Flügel? Liszt, Mozart, Bach, Rachmaninow und natürlich Chopin. Zerfleddert, gebraucht und doch nicht mehr benutzt. Ich blättere gedankenlos in den Partituren herum. Franziska hat vieles mit Bleistift in die Noten hineingeschrieben. Zeichen und Symbole, die ich nicht verstehe, vermutlich Hinweise, mit welcher Dynamik und Lautstärke und mit welchem Tempo sie bestimmte Passagen spielen mochte. Ich hebe die Klappe hoch und spiele «Imagine», nicht von Rachmaninow, sondern von John Lennon. Das hat mir Franziska beigebracht, als ich zwanzig Jahre alt war, eine Nickelbrille trug und dem Frieden eine Chance geben wollte. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn alles anders wäre und eben nicht so, wie es gerade ist. Das rechte Pedal quietscht so laut, dass ich zu spielen aufhöre, den Deckel wieder schließe und traurig ins Bett gehe.
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18. KAPITEL
H ans-Erwin Möller ist ein genauer Mensch. Das sieht man schon an seinem Vorgarten. Ein Gräslein so hübsch wie das andere, fein säuberlich aneinandergereiht und in der Höhe vermutlich mit der Nagelschere auf das korrekte Maß zurechtgestutzt. Ein künstlicher Springbrunnen plätschert unterdrückt aggressiv vor sich hin, und die Hecke hat eine Frisur wie ein amerikanischer GI.
Hans-Erwin Möller ist Sitzungspräsident des Schottener Karnevalsvereins. Er war am besagten Faschingsumzug mit Herr Bärt auf dem gleichen Wagen aktiv und müsste sowohl den Stimmungsmusiker als auch das Mordopfer bereits seit dreißig Jahren kennen oder, im Falle Drossmanns, gekannt haben.
Hans-Erwin Möller ist 74 Jahre alt und war vor seinem Eintritt in den Ruhestand Berufsoffizier bei der Bundeswehr. Ich kenne ihn bereits aus meiner Kindheit, wenn auch nur flüchtig. Gelegentlich war er bei meinem Vater zu Besuch, wenn sie gemeinsame Faschingsveranstaltungen planten. Mein Vater mochte ihn nicht sonderlich. Ich kann mich erinnern, wie häufig er über ihn herzog. Hans-Erwin Möller ist sehr genau und sehr korrekt. Ich hoffe daher stark, dass er mir mit meinen Fragen weiterhelfen kann. Ich drücke auf die frischpolierte Klingel. Seine Frau Irmgard öffnet mir.
«Guten Tag, Henning. Du kennst mich gar nicht mehr, oder? Meine Güte, wie lang ich dich nicht mehr gesehen habe. Darf ich überhaupt noch du sagen?»
«Natürlich, Frau Möller.»
Es ist so, wie wenn man alte Lehrer wieder trifft. Man wird von ihnen lebenslang geduzt, bleibt aber selber stets devot beim Sie.
«Haaaaaans», ruft sie ihren Mann.
«Die Schuhe bitte», sagt sie dann mit Blick auf mein unteres Körperende. Ich ziehe sie gehorsam aus und erinnere mich mit Unbehagen daran, dass ich heute Morgen keine frischgewaschenen Socken zur Verfügung hatte. Wenn ich ehrlich bin, trage ich sie heute schon den dritten Tag. An der Ferse des linken Sockens hat sich zu allem Überfluss auch noch meine Fußhaut gegen den dunklen Stoff durchgesetzt.
Ich betrete das Wohnzimmer, das genauso aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Neben schmierigen dunkelblauen Ölschinken, auf denen alte Militärschiffe in stürmischer See ins Schwanken geraten sind, hängen grellbunte Karnevalsorden, auf denen lustige Bären mit Clownsmund und Narrenkappe grinsen.
Als Hans-Erwin Möller das Wohnzimmer betritt, fällt mir auf, dass ich ihn das erste Mal in meinem Leben ohne Uniform sehe. Früher trug er entweder seine Dienstuniform der Bundeswehr oder die karnevalistische Präsidentenkluft. Heute trägt er eine akkurate Hausjacke in Strick. Sein Händedruck lässt mich leicht in die Knie sacken, sein Haarwasser duftet schneidig.
Ich wappne mich
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