Totgeglaubt
seinen Stiefvater nicht die Oberhand gewinnen lassen durfte. Er mochte selbst noch ein Kind sein, aber er war der Einzige, der sich zwischen seine Mutter und Schwestern stellen konnte und den Mann, der eine Gefahr für sie war.
Dabei war der Gewaltausbruch nicht das Schlimmste gewesen. Das, was danach folgte, war weit schlimmer – die Panik, die aufkam, als sie sich der Tat und ihrer Unwiederbringlichkeit bewusst wurden, das Blut, der schwere, leblose Körper, den Clay aus dem Haus schleifen musste.
Er hatte fast das Gefühl, seine schmerzenden Muskeln von damals wieder zu spüren, als er an all das Graben und Ausheben jener Nacht dachte. Er war körperlich und emotional total erschöpft gewesen, hatte sich danach gesehnt, eine Woche durchzuschlafen und beim Aufwachen festzustellen, dass alles nur ein Albtraum gewesen war.
Aber es war leider kein Albtraum. Er musste am nächsten Morgen aufstehen und am übernächsten auch und unermüdlich weitermachen, als wäre nichts passiert. Es gab niemanden sonst, der die Führung hätte übernehmen und die Familie stützen können.
Er schloss die Augen und sog ganz langsam die Luft ein. “Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.”
“Das ist alles?”, fragte sie.
“Es gibt nichts, was ich dazu noch sagen könnte, Allie.”
“Und warum nutzt du die verbleibende Zeit nicht, um die Stadt zu verlassen? Geh nach Alaska, so wie dein Vater, oder woandershin und komm nicht wieder.”
Clay massierte sich den Hals, um seine angespannten Muskeln zu lockern. “Du rätst mir zu fliehen?”
“Ich habe Angst um dich. Verschwinde, bevor sie dich ins Gefängnis bringen.”
“Das ist ein interessanter Ratschlag von einer Frau, die auf Seiten des Gesetzes steht.”
“Die Gegenseite hält sich doch auch nicht an das Gesetz. Warum sollten wir das tun?”
Wir.
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er wollte sie nicht mit in die Sache hineinziehen. Nach dem, was sie gerade vor Beth Anns Haustür gesehen hatte, müsste sie ihn eigentlich hassen und ihm die Pest an den Hals wünschen. “Es gibt in dieser Sache kein ‘Wir’, Allie. Ich stecke da ganz alleine drin, hörst du?”
Schweigen. Er verfluchte sich, er wünschte sich so sehr, ihr etwas bieten zu können … irgendetwas. Aber ihr jetzt zu schildern, wie er sich fühlte, würde es für sie beide nur noch schwerer machen. “Ich kann nirgendwohin”, fügte er hinzu.
Sie schniefte, und er fragte sich, ob sie wohl weinte. “Warum nicht?”
Weil die Polizei mit einem weiteren Durchsuchungsbefehl kommen und im Keller fündig werden würde. Und dann würde wohl niemand mehr den leisesten Zweifel an meiner Schuld haben.
Die Chancen stünden besser, wenn er gegen die dürftigen Beweise vorging, die sie bisher zusammengetragen hatten. “Die Zeit wird der Angelegenheit ein Ende bereiten, meinst du nicht? Der Reverend wird vermisst, und die Stadt will, dass jemand dafür büßt. Wenn ich vor Gericht stehe, besteht immerhin die Chance, dass sie künftig meine Mutter und meine Schwestern in Ruhe lassen.”
“Aber du hast ihn nicht umgebracht.”
Ihre Worte weckten eine schreckliche Sehnsucht in ihm. “Woher weißt du das?”
“Ich weiß es. Und ich finde es entsetzlich, dass das, was letztes Wochenende zwischen uns beiden passiert ist, vermutlich so vielen Leuten gegen den Strich geht, dass sie jetzt so durchdrehen. Wir hätten uns nicht …”
Weil sie ihren Satz nicht beendete, tat er es für sie.
“… lieben sollen?”
“Ja.”
Er lächelte trotz des Damoklesschwertes, das über ihm hing. “Machst du Witze? Wenn ich meine Augen schließe, dann kann ich dich immer noch schmecken, fühlen …”
“Clay, bitte nicht”, sagte sie atemlos.
“Was immer auch kommen mag, ich bereue es nicht”, sagte er und legte auf.
Am nächsten Morgen wurde Allie durch einen Anruf von Grace Archer geweckt.
“Ihr Vater hat gerade meinen Bruder verhaftet”, sagte sie.
Allie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die eine Stunde, die sie geschlafen hatte, nachdem sie Whitney zur Schule gebracht hatte, war nicht genug. Zumindest nicht genug, um sich für einen Tag gewappnet zu fühlen, der so schlecht begann. Die ganze Nacht über hatte sie wach gelegen, sich Sorgen um Clay gemacht und sich gefragt, wie sie ihm nur helfen könnte. Aber sie wusste es nicht. “Woher haben Sie meine neue Nummer?”, fragte sie distanziert. Sie wollte nur mit den schmerzenden Gefühlen fertig werden, die wie eine schwere Last auf ihr
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