Totgeglaubt
sie die Veranda überquerte, sah Allie zwei Paar kleiner Gummistiefel neben einer Glastür stehen, die wahrscheinlich in einen Windfang oder eine Waschküche führte. Doch es war nicht die Glastür, die auf ihr Klingeln geöffnet wurde, sondern die holzgeschnitzte Doppeltür in der Mitte der Veranda.
“Danke, dass Sie gekommen sind”, begrüßte Grace Allie und lächelte sie offen an. “Ach was … wollen wir nicht einfach Du sagen?” Sie winkte sie in ein großes Foyer.
Grace schwarzer Haarknoten war etwas zerzaust, und sie war nicht geschminkt. Trotzdem sahen wohl nur wenige Frauen unmittelbar nach der Entbindung so gut aus. Grace war zwar nicht ganz so schlank wie sonst, aber da sie immer schon eine sehr weibliche Figur gehabt hatte, betonten die zusätzlichen Pfunde jetzt nur vorteilhaft ihre Rundungen. Und: Sie hatte dieselben dunkelblauen Augen und dieselben feinen Gesichtszüge wie Clay.
“Schön, dich zu sehen”, sagte Allie. “Wie geht’s der Kleinen?”
Grace lächelte. “Gut. Sie schläft oben in ihrem Stubenwagen. Wenn wir hier fertig sind, hole ich sie runter, damit du sie dir anschauen kannst.”
“Und die Jungs? Sind die nicht hier?”
“Nein, ich habe Kennedy gebeten, sie zu Grandma und Grandpa Archer zu fahren. Natürlich wollten sie das Baby am liebsten mitnehmen, aber ich lasse die Kleine noch nicht aus dem Haus.”
Allie erinnerte sich an das Glücksgefühl, das sie bei Whitneys Geburt überkommen hatte. Sie erinnerte sich ebenfalls daran, wie sie gehofft hatte, diese Freude mit ihrem Mann teilen zu können – und an seine negative Reaktion. Die ersten Monate hatte er sich hinter seiner Arbeit verschanzt oder war mit seinen Freunden losgezogen, weil er ihre Fürsorge und Liebe zu dem Kind nicht ertrug.
“Nichts ist vergleichbar mit dem Erlebnis einer Geburt”, murmelte sie.
“Ja”, stimmte Grace zu, “da hast du recht.”
Allie zupfte am Riemen ihrer Handtasche. “Es tut mir leid wegen Clay. Besonders, dass es ausgerechnet jetzt passieren musste.”
Graces Miene wurde ernst: “Ich bezweifle, dass das ein Zufall ist.”
“Du meinst, dass die Bürgermeisterin und die Vincellis gehofft haben, dich in einem schwachen Moment zu erwischen?”
“Ja. Sie hoffen, dass ich zurzeit nicht in der Lage bin, seine Verteidigung zu übernehmen. Aber da werde ich ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Clay verdient es nicht, ins Gefängnis zu gehen.”
“Ich weiß.”
“Komm, wir unterhalten uns hier drinnen”, sagte Grace und führte Allie in einen Salon mit einem großen Sofa und zwei Sesseln. An zwei Wänden reihten sich Bücherregale aneinander, die zwei anderen Seiten des Raumes hatten große Fenster, vor denen schwere teure Gardinen hingen. Allie wollte gerade die exklusive, geschmackvolle Einrichtung des Raumes loben, die ganz in Preiselbeer-, Elfenbein- und Grüntönen gehalten war, als sie die zwei Frauen sah, die auf dem Sofa saßen und ihr entgegenblickten. Sie hatte nicht erwartet, Madeline Barker und Irene Montgomery ebenfalls hier anzutreffen.
“Hi, Allie”, sagte Madeline. “Komm, setz dich.”
“Schön, dich zu sehen, Maddy”, erwiderte Allie.
“Ich bin so froh, dass du uns helfen willst.”
Irenes rotes Gesicht deutete darauf hin, dass sie geweint hatte. Allie hätte sich gerne eingeredet, dass Irenes schlechte Stimmung einzig auf die Verhaftung ihres Sohnes zurückzuführen war. Aber die Art und Weise, wie Irene jetzt die Lippen zusammenkniff, legte nahe, dass mehr dahintersteckte – dass Irene sie dafür verantwortlich machte, was mit Clay passiert war.
Zweifellos hatte jede der drei Frauen von ihrer gemeinsamen Nacht mit Clay gehört. Und zweifellos wussten sie alle drei, wie ihr Vater darauf reagiert hatte – denn sonst hätten sie ihr den Job nicht angeboten.
Mit einem seltenen Gefühl der Befangenheit setzte sich Allie ihnen gegenüber auf einen der beiden Sessel.
“Die Anklageschrift wird am Dienstag verlesen”, erklärte Grace, während sie am Lautstärkeregler des Babyfons drehte, das neben ihr auf einem kleinen Tisch stand.
“Ist die Höhe der Kaution schon bekannt?”, erkundigte sich Allie, die bislang nichts darüber gehört hatte.
“Ich nehme an, sie werden eine halbe Million verlangen.”
“Das ist eine Unverschämtheit”, ereiferte sich Madeline.
Graces Augen blitzten vor Empörung. “Kennedy hat mir erzählt, sie würden behaupten, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.”
“Woher weiß Kennedy
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