Totgeglaubt
geht um Gerechtigkeit”, hielt sie ihrem Vater entgegen. “Und es geht darum, den Angehörigen von Reverend Barker die Antworten zu geben, auf die sie ein Anrecht haben und nach denen sie nun schon so lange suchen. Ein Mann wird vermisst, Dad. Ich denke, es ist unser Job, herauszufinden, was mit ihm passiert ist.”
“Er ist vor so langer Zeit verschwunden”, wiegelte Dale ab. “Wir haben mittlerweile dringendere Probleme zu lösen.”
Allie starrte ihn an. “Woher kommt dein Sinneswandel?”
“In einen so lange zurückreichenden Fall investiert man monatelange Ermittlungsarbeit, das ist mühevolle Kleinarbeit. Das hast du selbst gesagt.”
“Das habe ich, aber …”
“Ich sehe keinen Grund für dich, ausgerechnet diesen Fall lösen zu wollen”, unterbrach er sie. “Egal, ob innerhalb oder außerhalb der Arbeitszeit. Ich brauche dich, damit du dich um die aktuellen Probleme kümmerst, nicht um die, die vor zwei Jahrzehnten aktuell waren. Und außerdem bist du alleinerziehende Mutter, Allie. Du wirst deine kostbare Freizeit sicher nicht mit den Barker-Akten verbringen wollen.”
Er tippte seinen letzten Satz zu Ende, rückte vom Schreibtisch weg und setzte den Drucker in Gang. Als das Dokument aus dem Gerät herauskam, konnte Allie erkennen, dass es ein Brief an die Bürgermeisterin war. Allie hoffte, dass das Schreiben den Mangel an Beweisen gegen Clay Montgomery darlegen würde, aber sie wollte nicht zum Drucker gehen und sich den Brief genauer anschauen. Stattdessen zog ihr Vater das Papier aus dem Druckerschacht. “Ich verstehe das nicht”, sagte sie.
Ihre Blicke trafen sich. “Was verstehst du nicht?”
“Bislang warst du genauso interessiert an dem Fall wie ich.”
Mit düsterem Blick warf er sich seinen Mantel über. “Ich habe die Vergangenheit hinter mir gelassen. Und der Rest der Stadt sollte das auch tun.”
“Dad, sie haben einen Freund, ein Familienmitglied, einen Nachbarn verloren. Und sie wissen nicht, warum.”
“Sie haben das Bedürfnis, es jemandem anzuhängen. Ob der nun schuldig ist oder nicht.”
Allies Gereiztheit wuchs. “Wenn wir den Fall lösen, lösen wir das Problem.”
“Manche Fälle bleiben besser ungelöst”, murmelte er.
“Wie bitte?”
Er reagierte nicht. “Ich bin müde. Ich fahre nach Hause.”
Allie sah zu, wie er den Brief an die Bürgermeisterin unterschrieb, ihn in den Postausgangskorb legte und zur Tür ging. Einen Moment lang dachte sie, er würde gehen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Doch dann drehte er sich noch einmal um. “Wie wär’s, wenn du es heute Nacht mal ein bisschen ruhiger angehen lässt?”, fragte er mit einem müden Grinsen.
Allie rang sich ein Lächeln ab. “Fahr vorsichtig, Dad. Draußen ist es richtig eklig.”
Er blieb noch einmal stehen, um seinen Regenschirm auszuschütteln. “Wo steckt nur dieser verdammte Hendricks?”, fragte er mit einem Blick auf die Uhr.
Allie zuckte mit den Achseln. “Der kommt wie immer zu spät.”
“… und bringt sowieso nichts”, murmelte Dale. Dann öffnete er die Tür, und der Wind wehte durchs Büro. Es roch nach Regen.
Um zu verhindern, dass die Papiere auf seinem Schreibtisch durcheinanderwirbelten, beschwerte Allie sie mit seinem Kaffeebecher.
Manche Fälle bleiben besser ungelöst?
Sie war so damit beschäftigt, sich einen Reim auf diese untypische Antwort ihres Vaters zu machen, dass ihr die große Tasse nicht weiter auffiel. Doch dann bemerkte sie plötzlich den Aufdruck. Ein Teddybär. Darunter stand: “Du bist einfach bärenstark”.
Du bist einfach bärenstark?
Mit gerunzelter Stirn besah sie sich die Tasse von Nahem. Wo hatte ihr Vater die denn her? Ihre Mutter kaufte nur schlichte, neutrale Sachen für Dale und elegante, klassische für sich selbst. Allie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen solchen Kitsch im Hause ihrer Eltern gesehen zu haben. Und es war auch nicht die Art Tasse, die sich ihr Vater selbst ausgesucht hätte …
Sie blickte hinüber zur Kaffeemaschine und dem seltsamen Sammelsurium von Tassen, das dort stand. Wer weiß schon, wo die alle herkommen?, dachte sie und brachte die Tasse zur Spüle.
4. KAPITEL
“H ier sind Sie!”
Allie drehte sich zu Officer Hendricks um, der in der Tür zum Archivraum stand und sich seinen gigantischen Bauch rieb, als hätte er Verdauungsstörungen. Es hätte Allie nicht gewundert, wenn das tatsächlich der Fall gewesen wäre. Er aß mehr als alle anderen Menschen, die sie kannte. Auch jetzt
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