Totgeglaubt
hatte er wieder einen Fettfleck auf dem Kragen.
“Woran arbeiten Sie gerade?”, fragte er, hakte seine Daumen hinter seinen Gürtel und lehnte sich gegen den Türpfosten.
Da sie die Barker-Akten um sich herum auf dem Fußboden ausgebreitet hatte, erübrigte sich die Frage eigentlich. Aber für einen Polizisten war Hendricks erstaunlich schlecht im Schlussfolgern. “Ich suche nach Anhaltspunkten im Fall Barker”, antwortete sie.
“Nach Anhaltspunkten?” Hendricks blickte mürrisch drein. “Warum? Wir wissen doch längst, welcher Teufel dahintersteckt.”
“So so,
wir
wissen das also?” Sie zog verächtlich die Augenbrauen hoch.
Seine erste Reaktion war ein Kratzen am Kopf, auf dem nur noch drei, vier spärliche Strähnen seiner dünnen blonden Haare übrig geblieben waren. “Na, Sie selbst haben doch Beth Anns Aussage aufgenommen.”
“Und Sie können beweisen, dass das, was sie behauptet, der Wahrheit entspricht?”
“Die Tatsache, dass wir nicht beweisen können, dass Clay der Übeltäter ist, bedeutet doch nicht, dass er es
nicht
ist.”
Diesen Standpunkt hatte sie schon von fast jedem Einwohner der Stadt gehört. Aber ihn aus dem Munde eines Polizistenkollegen zu hören, ging ihr zu weit. “Verdächtigen können Sie, wen Sie wollen. Aber ohne Beweise nützt Ihnen das alles nichts. Ohne Beweise wird es nie zu einer Anklage kommen.”
“Der Beweis steckt irgendwo da drin”, meinte er. “Wir haben nur noch nicht das Ende des Fadens gefunden, an dem man ziehen muss, um die ganze Sache aufzurollen.”
“Genau deshalb kämme ich die Akten noch einmal durch. Ich versuche, etwas zu finden, was bislang übersehen wurde.”
Hendricks zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und tupfte sich damit die Stirn ab. Es war kalt draußen, und auf dem Revier war es auch nicht viel wärmer, aber Hendricks war eigentlich immer schweißgebadet. “Soweit ich weiß, will Ihr Dad nicht, dass wir länger im Fall Barker herumwühlen.”
Allie zog einen weiteren Packen Papiere aus dem Karton. “Er will nicht, dass ich zu viel Zeit hineinstecke, und das werde ich nicht.” Als Dale vorhin gegangen war, war er zu sehr in Gedanken vertieft gewesen, um ihr neue Aufgaben zu erteilen. Und es war eine ruhige Nacht. Sie sah also kein Problem darin, sich weiter über die Akten zu beugen. Sie hatte Madeline Barker Antworten versprochen, und sie wusste, dass Clays Stiefschwester jeden Tag anrufen würde, um sich nach ihren Fortschritten zu erkundigen. Bisher hatte sie sich mindestens einmal pro Woche, teilweise öfter, bei ihr gemeldet.
Außerdem wusste Allie, dass sie, wenn sie nicht irgendein Ziel vor Augen hätte, auf diesem Revier wegdämmern würde, so wie Hendricks es oft tat. Sie war auf den Beinen, seit Whitney sie um halb drei Uhr nachmittags geweckt hatte, sie hatte mit ihrer Tochter zusammen die Schularbeiten erledigt, sie zu ihrer Klavierstunde gefahren, ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens geholfen und Whitney dann ins Bett gebracht. Sie fühlte sich erschöpft, aber gleichzeitig fand sie, dass sie den Steuerzahlern etwas schuldig sei. Und sie glaubte, ihre Fähigkeiten und ihre Ausbildung am effektivsten zu nutzen, wenn sie den Fall Barker weiterverfolgte. Er mochte neunzehn Jahre zurückliegen, aber er war in den Köpfen vieler Menschen noch sehr präsent. Vor allem natürlich bei Reverend Barkers Tochter und den Montgomerys, bei Jed Fowler, der Barkers Traktor in der fraglichen Nacht repariert hatte, bei Reverend Portenski, Barkers Nachfolger, und natürlich in der gesamten Kirchengemeinde. Selbst die Archers fühlten sich irgendwie betroffen, jetzt, wo ihr Sohn mit Grace verheiratet war. Und sie waren eine ziemlich prominente Familie.
Allie verstand nicht, warum der Fall für ihren Vater auf einmal keine Priorität mehr hatte, nachdem er anfangs so wild entschlossen war, ihn zu lösen. Er hatte seinem Vorgänger oft vorgeworfen, die Anfangsermittlungen verpfuscht zu haben, und immer wieder beteuert, dass sie den Fall schon vor Jahren gelöst hätten, wenn am Anfang alles korrekt gelaufen wäre.
Warum es also nicht
jetzt
korrekt aufrollen?
“Was wollen Sie finden, was wir nicht längst wissen?”, fragte Hendricks.
“Nicht viel”, antwortete sie knapp, denn der Bericht, den sie gerade in Händen hielt, hatte ihr Interesse geweckt. Angeblich hatte Barkers Neffe Joe Vincelli die Taschenbibel gefunden, die der Reverend immer und überall mit sich herumgetragen hatte. Das war letzten Sommer
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