Totgeglaubt
meisten Leute glaubten, was er sagte. Andererseits hatte er bereits gemerkt, dass Allie nicht so war wie die meisten Leute. Sie wusste, dass er unter Umständen in einen Mord verwickelt war. Sie trieb Ermittlungen voran, und dennoch behandelte sie ihn fair. Für sie war er unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen war. Neulich Nacht hatte sie nicht automatisch das Schlimmste angenommen, obwohl er nicht in allzu gutem Licht dagestanden hatte – ebenso wenig wie übrigens Beth Ann. Und vorhin beim Billard hatte sie sich von Joe nicht einschüchtern oder gar überzeugen lassen, Clays Gesellschaft zu meiden.
Solange es keine Beweise gegen ihn gab, ging Allie McCormick von seiner Unschuld aus. Sie hielt sich mit vorschnellen Schlüssen zurück und berief sich auf Fakten, nicht auf Gerüchte.
Irgendwie bewunderte er ihre Unvoreingenommenheit. Aber gleichzeitig nahm er sie ihr auch übel. Denn jetzt hatte er etwas zu verlieren.
“Es ist lange her, dass er Teil meines Lebens war”, sagte er, immer noch bemüht, die Gefühle für seinen Vater herunterzuspielen.
“Wenn Sie wollen, kann ich versuchen, noch etwas mehr über ihn herauszufinden”, bot sie an. “Ich kann Ihnen sogar seine Nummer geben.”
“Nein.” Vor dem Haus ihrer Eltern hielt er an. Die Außenbeleuchtung von Chief McCormicks lang gezogenem geziegelten Ranchhaus warf ein gelbliches Licht über die abfallende Rasenfläche. Der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Die Autos in der Einfahrt und das Wissen, dass Allies Eltern drinnen schliefen, ließen ihn sich plötzlich fühlen, als wäre er wieder sechzehn Jahre alt.
“Vielleicht vermisst er Sie auch, Clay”, sagte sie.
“Allzu schmerzlich kann er mich nicht vermissen, oder?”
Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: “Egal, für mich ist er nicht mehr mein Vater. Und ganz sicher brauche ich niemanden, der irgendein verkrampftes Treffen zwischen uns organisiert.”
Sie nickte. “Okay. Sagen Sie einfach Bescheid, falls Sie es sich anders überlegen.”
Fast hätte Clay sie gebeten, Lucas’ Anruf nicht entgegenzunehmen. Aber jetzt, wo Allie seinem Vater bereits eine Nachricht hinterlassen hatte, fürchtete er, mit dieser Bitte bloß ihr Misstrauen zu wecken. Warum bloß hatte Irene dem Mann, der ihre Vergangenheit ruiniert hatte, etwas an die Hand gegeben, mit dem er auch ihre Zukunft zerstören konnte?
Clay wäre Irene gerne böse gewesen, aber er wusste, dass es aus ihm womöglich ebenso herausgeplatzt wäre, wenn Lucas
ihn
angerufen hätte. Sein Vater war ein Typ, dem man schnell Vertrauen schenkte. Das Problem war, dass Lucas sich des geschenkten Vertrauens nie würdig erwies.
Und so könnte es auch diesmal wieder sein.
“Gute Nacht”, sagte Clay, als Allie die Tür öffnete, um herauszuklettern.
Sie warf ihm ein mitfühlendes Lächeln zu. “Der Verlust liegt auf seiner Seite, Clay.”
“Tun Sie das nicht.”
Erstaunt riss sie die Augen auf. “Was?”
“Mich bemitleiden.” Er schaute ihr ins Gesicht. “Lieben Sie mich oder hassen Sie mich, aber bemitleiden Sie mich nicht.”
Sie hatte keinen Mantel dabei und rieb sich fröstelnd die Arme. “Das ist eine interessante Alternative”, sagte sie und schloss die Tür.
“Wie war’s gestern Abend?”
Allies Mutter saß neben ihrem Vater am Frühstückstisch und trank ihren Kaffee. Evelyn trug einen Morgenmantel und Pantoffeln, Dale seine ältesten Sachen zum Rasenmähen. Mit seiner Lesebrille auf der Nasenspitze blätterte er in der Zeitung, wobei er Whitney zu ignorieren versuchte, die mit lautem Gekreische ihre Barbies ins Spülbecken springen ließ.
“Willst du deiner Mutter nicht antworten?”, fragte er, als Allie schwieg.
“Nett”, erwiderte diese. Sie wollte möglichst keinen Wirbel um den gestrigen Abend machen. Sie hatte ihre Mutter gebeten, babyzusitten, um ihre Ermittlungen weiter vorantreiben zu können. Doch statt zu ermitteln, hatte sie sich schlicht und einfach amüsiert. Größtenteils Clays wegen. Aber darüber wollte sie lieber nicht weiter nachdenken.
“Das ist alles?”, hakte Evelyn nach. “Einfach nur nett?”
Allie zuckte die Achseln. Sie fühlte sich unbehaglich unter dem forschenden Blick ihres Vaters. “Ja, so ziemlich.”
“Wo ist dein Auto?”, fragte er rundheraus und legte den Kopf etwas zurück, um sie über den Rand seiner schmalen Brille besser sehen zu können.
Ihre Eltern hatten ihr Treiben immer schon sehr genau beobachtet. Das lag wohl einfach daran, dass ihr Vater
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