Totgeglaubt
es ihm kurzzeitig den Atem nahm und er mitten in seiner Bewegung innehielt. Im grellen Gegenlicht der Nachmittagssonne, die für Mitte Mai ungewöhnlich heiß war, konnte er sich sehr gut eine andere Frau an der Stelle vorstellen, an der Grace gerade stand. Eine Frau, die auf ihn wartete. Mit
seinem
Kind im Bauch.
“Stimmt was nicht?”, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, um den albernen Tagtraum loszuwerden, und ging zu seiner Schwester hinüber. Er konnte es von keiner Frau, zumindest keiner Ehefrau, erwarten, dass sie mit ihm zusammen im Schatten der Vergangenheit lebte. Er konnte nicht die Liebe einer Frau einfordern und sie dann, wenn die Wahrheit ans Licht kam, alleine sitzen lassen.
“Doch, doch, alles okay.” Mit der Hand schirmte er seine Augen gegen die Sonne ab, als er näher kam. “Wie geht’s dem Baby?”
“Fein. Es wächst, wie du siehst. Ich komme mir vor wie ein Elch.”
“Blödsinn”, widersprach er. “Du warst nie hübscher.”
Sie lächelte, als er endlich vor ihr stand. “Meinst du das wirklich ernst?”
“Würde ich dich jemals anlügen?” Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. “Außerdem: Wie könnte ich finden, dass du nicht wunderschön bist? So ähnlich, wie du mir siehst.”
Lachend gab sie ihm einen Klaps und ließ sich in die Hollywoodschaukel fallen.
“Möchtest du etwas Kaltes trinken?”, fragte er.
Sie hatte ihr dickes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie hatte dieselben blauen Augen wie Clay. “Nein, danke, ich habe spät zu Mittag gegessen.”
Clay wollte sich die Hände waschen, aber um das Öl abzubekommen, musste er sie zehn Minuten lang schrubben. Da Grace jedoch nie lange auf der Farm blieb, beschloss er, damit zu warten, bis sie wieder weg war.
Er setzte sich neben sie. “Wo sind die Jungs?”
“Sie sind mit ihrem Vater zum Angeln gefahren. Das letzte Mal, bevor das Baby kommt.”
“Und was machst du, wenn die Wehen beginnen, während sie weg sind?”
“Sie sind nicht weit gefahren, nur bis nach unten zum alten Hatfield-Teich. Außerdem hat Kennedy seinen Pager dabei.” Grace streifte ihre Sandalen ab, zog die Beine hoch und legte ihren Kopf an Clays Schulter.
“Vorsicht, ich bin schmutzig”, warnte er.
“Ist mir egal.” Sie wirkte so ruhig und zufrieden, als sie mit geschlossenen Augen dasaß und sich von ihm schaukeln ließ, dass ihm die Unzufriedenheit mit seinem eigenen Leben fast ein schlechtes Gewissen bereitete. Zumindest war seine Schwester glücklich. Wie viele Jahre hatte sie gelitten, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte? “Ich wusste gar nicht, dass Kennedy einen Pager hat”, meinte er.
“Hatte er bis letzte Woche auch nicht. Er hat sich einen gekauft, weil er seinem Handy nicht traut. Wenn die Wehen beginnen, soll ich beides anrufen, den Pager und das Handy.”
Clay musste lachen und schaukelte weiter.
“Du vergisst hoffentlich nicht, mich sofort nach der Geburt anzurufen, oder?”
“Natürlich nicht.”
“Habt ihr euch schon auf einen Namen geeinigt?”
“Lauren Elizabeth, wenn es ein Mädchen wird.”
“Schön. Aber ich glaube ja, dass es ein Junge wird.”
Sie setzte sich etwas aufrechter, und ihr Lächeln wurde fast ein bisschen schüchtern. “Dann soll er Isaiah Clayton heißen.”
Überrascht sah er sie an: “Nach mir?”
Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. “Wenn du nichts dagegen hast.”
“Warum?”
“Weil du so ein guter Bruder bist.”
Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals.
Schweigend schaukelten sie weiter. Dann stupste sie ihn in die Seite. “Ich habe gehört, dass Allie McCormick nach Dad sucht.”
Er nickte.
“Zum Glück hat er keine Ahnung von all den Dingen, die uns belasten könnten.”
Clay blickte sie an, sagte aber nichts. Hatte Irene Grace nichts erzählt? Vielleicht war es das Beste in Graces Zustand. Sie durfte sich jetzt nicht aufregen. Sie hatte genug durchgemacht, ohne eigenes Verschulden. “Ja, zum Glück”, wiederholte er.
“Glaubst du, dass sie ihn findet?”
Er starrte auf seine öligen Hände. “Hat sie schon.”
Blitzschnell war sie auf den Beinen und stoppte das Geschaukel. “Und? Wo lebt er?”
“In Alaska.”
“Und was macht er da oben?”
“Er ist wieder verheiratet.”
Für einen kurzen Moment lag auf ihrem Gesicht der alte Ausdruck von Zerbrechlichkeit und Hilflosigkeit. Die Erwähnung von Lucas’ Namen hatte offensichtlich an schlechte Erinnerungen
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