Totgeglaubt
Fall nicht, weil ich glaube, dass Ihre Mutter eine Serienmörderin ist, falls Sie von diesem Gerücht schon gehört haben.” Sie blickte finster nach draußen und murmelte in Richtung des Seitenfensters: “Ich hasse das Getratsche in dieser Stadt.”
Clay stellt die Lüftung an, damit die Fenster nicht beschlugen.
“Was wollen Sie dann von ihm?”
Sie klemmte sich ein paar Strähnen ihres kurzen Haares hinter ihr kleines wohlgeformtes Ohr. “Ganz allgemeine Informationen. Ich beleuchte den Hintergrund jeder Person, die in meinen Ermittlungen eine Rolle spielt. Ich wäre blöd, wenn ich das nicht täte. Menschen kommen nicht als einzelne, isolierte Einheiten vor. Wir sind alle Teil eines Netzwerks, einer Vielzahl von Netzwerken. Ich kann mir kein klares Bild von jemandem machen, wenn ich mir nicht das Netzwerk anschaue, in das er eingebettet ist.”
“Aber Lucas gehört nicht mehr zu meinem Netzwerk. Er hat uns lange verlassen, bevor Lee Barker verschwunden ist.”
“Lucas? Sie nennen ihn nicht Dad?”
Clay überholte einen langsam dahinkriechenden Truck. Selbst in beschwipstem Zustand war Allie offensichtlich scharfsinnig genug, um die Zügel ihres Gesprächs nicht aus den Händen zu geben.
“Er hat uns verlassen, als ich gerade mal zehn war. Was haben Sie denn erwartet?”
“Das muss hart gewesen sein.”
“Wir haben’s überlebt.” Dass es nicht leicht war, sagte er nicht. “Und ich möchte nicht, dass er jemals wieder in meinem Leben auftaucht.”
Allie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf gegen den Sitz. “Glauben Sie, das hat er vor?”
“Ich würde es lieber nicht drauf ankommen lassen.”
Sie schaute ihn von der Seite an. “Dann sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Er ist wieder verheiratet und lebt in Alaska.”
Ihre Worte versetzten Clay einen doppelten Schlag. Instinktiv ging er vom Gas. Hatte sie bereits mit Lucas gesprochen? Hatte er seinen Mund gehalten? Oder hatte er Informationen entschlüpfen lassen, die Irene und ihm gefährlich werden könnten?
Der zweite Schlag wirkte auf einer anderen, tieferen Ebene: Lucas hatte seine erste Familie offensichtlich nicht genug geliebt, um bei ihr zu bleiben. Auch Clay hatte er nicht genug geliebt. Aber bei seiner zweiten Familie hielt er es aus?
“Alles in Ordnung mit Ihnen?”
Clay fuhr jetzt noch langsamer. Dann brachte er den Wagen wieder auf normale Geschwindigkeit. “Ja, natürlich.”
“Vielleicht sollten wir besser morgen darüber reden. Ihr Vater scheint ein heikles Thema für Sie zu sein, und ich bin jetzt nicht mehr so einfühlsam, wie ich eigentlich sein sollte.”
“Machen Sie sich um meine Gefühle mal keine Sorgen”, sagte er gereizt. “Sagen Sie mir lieber, wie Sie ihn gefunden haben.”
Sie zuckte die Schultern. “Das war nicht schwer. Ich habe seine Sozialversicherungsnummer von der Spedition bekommen, für die er gearbeitet hat, als Sie noch klein waren. Damit habe ich ein bisschen in der Datenbank herumgezaubert.”
Es war zu spät. Clay waren die Hände gebunden.
“Was hat er erzählt?”, fragte er. Er fürchtete sich vor der Antwort.
“Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Er war nicht zu Hause, als ich anrief. Ich habe seine Frau gebeten, ihm etwas auszurichten.”
Seine Frau
… Clay wünschte, diese beiden Wörter würden ihm nicht so nahegehen. Er versuchte sich einzureden, dass es keinen Grund dafür gab. Er war schließlich kein hilfs- und liebesbedürftiger kleiner Junge mehr. Er war vierunddreißig. Aber der Schmerz saß noch immer tief. “Wissen Sie, ob er andere Kinder hat?”
“Nein. Aber ich kann Ihnen sagen, womit er sein Geld verdient.”
Erst zögerte Clay, doch dann siegte seine Neugier. “Womit?”
“Er ist Pilot. Er fliegt Fischer und Angler zu entlegenen Seen und Flüssen.”
Ich habe mein Leben noch vor mir! Ich möchte die Welt sehen. “
Ja, das passt”, murmelte er.
“Was passt?”
“Nichts.”
Sie legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. “Es tut mir leid.”
Es war ihm peinlich, seine Gefühle gezeigt zu haben. Schroff schüttelte er ihre Hand ab. “Mein Vater bedeutet mir nichts mehr.”
Sie sah ihn forschend an. Der Mond schien sanft auf ihr Gesicht. “Erwarten Sie, dass ich Ihnen das glaube?”
Er legte seinen Arm in möglichst lässiger Haltung auf das Steuer. “Tun Sie das nicht?”
“Keine Sekunde.”
Clay wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er war eigentlich gewohnt, dass die
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