Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
und du hast die Bruchsequenz.
Aber um das herauszufinden, muss man rekonstruieren.
Und das bedeutete viel Zeit und Geduld.
Und jede Menge Klebstoff.
Also holte ich meine Edelstahlschüssel heraus, meinen Sand und meinen Elmer’s Kleister. Paar um Paar fügte ich Fragmente zusammen und hielt sie, bis die Bindung einsetzte. Dann stellte ich die Mini-Rekonstruktionen aufrecht in den Sand und fixierte sie so, dass sie ohne Verrutschen oder Verwinden austrocknen konnten.
Der Ghettoblaster der Labortechnikerin verstummte.
Die Fenster wurden dunkel.
Eine Glocke erklang, was ankündigte, dass die Telefonanlage des Hauses auf Nachtdienst umgestellt wurde.
Ich arbeitete weiter, wählte aus, fügte zusammen, klebte, balancierte. Schweigen senkte sich herab und wurde in der feierabendlichen Leere des großen Hauses immer lauter.
Als ich den Kopf hob, zeigte die Uhr 18:20.
Was stimmte daran nicht?
Ryan wollte um sieben bei meiner Wohnung sein.
Ich raste zum Waschbecken, wusch mir die Hände, riss den Labormantel herunter, packte meine Siebensachen und stürzte davon.
Draußen fiel ein kalter Regen. Nein. Das wäre zu freundlich ausgedrückt. Was da herunterkam, war Graupel. Eisige Schlutze, die sich an meiner Jacke festsetzte und mir auf den Wangen brannte.
Ich brauchte zehn Minuten, um mich durch den Gletscher auf meiner Windschutzscheibe zu hacken, und dann dreißig für eine Strecke, die ich normalerweise in fünfzehn schaffte.
Als ich ankam, lehnte Ryan an der Wand neben der Haustür. Neben seinen Füßen stand eine Tüte mit Lebensmitteln.
Es gibt einige unveränderliche Naturgesetze. Immer wenn ich Andrew Ryan treffe, sehe ich so übel aus, dass es schlimmer nicht mehr geht.
Andrew Ryan sieht aus wie frisch von einem Plakat für einen Abenteuerfilm. Immer.
An diesem Abend trug er eine Bomberjacke, einen gestreiften Wollschal und ausgewaschene Jeans.
Ryan lächelte, als er mich so daherschleichen sah, die Handtasche rutschend auf der einen Schulter, den Laptop in der linken Hand, die Aktentasche in der rechten. Meine Wangen waren rissig vom Eisregen. Die Haare klebten mir klatschnass auf dem Gesicht. Die Feuchtigkeit hatte aus meiner Wimperntusche eine impressionistische Studie in Schwarzgrau gemacht.
»Haben sich die Huskies im Geschirr verheddert?«
»Es graupelt.«
»Ich glaube, man muss ›Mush‹ rufen, damit sie vernünftig laufen.«
Ryan stieß sich von der Wand ab, erlöste mich mit der einen Hand von meinem Computer und strich mir mit der anderen die Haare aus der Stirn. Einige behielten als fester Strang die Form.
»Ist dir der Haarlack ausgekommen?«
»Ich habe geklebt.« Ich holte die Schlüssel heraus.
Ryan schien etwas auf den Lippen zu haben, hielt sich aber zurück. Er bückte sich, hob seine Tüte auf und folgte mir in die Wohnung.
»Tschirp?«
»Charlie, mein Junge«, rief Ryan.
»Tschirp. Tschirp. Tschirp. Tschirp. Tschirp.«
»Mach du dir mit Charlie mal ’ne schöne Zeit«, sagte ich. »Ich werde mich erst mal entkleistern.«
»Tap Pants?«
»Ich hab sie noch nicht mal bestellt, Ryan.«
In zwanzig Minuten hatte ich geduscht, die Haare gewaschen und gefönt und ein subtiles, aber kunstvolles Make-up aufgetragen. Ich trug eine pinkfarbene Cordhose, ein figurbetonendes Top und hinter den Ohren Issey Miyake.
Keine Tap Pants, aber einen männermordenden Tanga. In Rosé. Kein Höschen, das meine Mutter getragen hätte.
Ryan war in der Küche. Die Wohnung roch nach Tomaten, Anchovis, Knoblauch und Oregano.
»Machst du deine weltberühmten puttanesca ?«, fragte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um Ryan auf die Wange zu küssen.
»Wow.« Ryan schlang die Arme um mich und küsste mich auf den Mund. Dann steckte er einen Finger in meinen Hosenbund, zog daran und spähte meinen Rücken hinab.
»Keine Tap Pants. Aber nicht schlecht.«
Ich stieß mich mit beiden Händen von seiner Brust ab.
»Du hast sie wirklich noch nicht bestellt?«
»Ich hab sie wirklich noch nicht bestellt.«
Birdie tauchte auf, schaute missbilligend drein und schlich sich zu seiner Schüssel.
Beim Abendessen erzählte ich ihm von meiner Frustration über den Ferris-Fall. Bei Kaffee und Dessert brachte Ryan mich in Bezug auf seine Ermittlungen auf den neuesten Stand.
»Ferris importierte rituelle Kleidungsstücke. Yarmulken, talliths. «
Ryan missverstand meinen Gesichtsausdruck.
»Der tallith ist der Gebetsschal.«
»Ich bin beeindruckt, dass du das weißt.« Ryan war katholisch erzogen,
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