totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
ma’ an und sag’ ihr Bescheid. Die will bestimmt zum Friedhof.«
»Hörn Se ma! Dat lohnt gar nich. Die werden Se gar nich finden! Anonymet Reihengrab. Dafür hat et gerade noch gereicht. Und erzählt hat se mir immer wat vonne große Gruft. Ich dachte auch, ich geh’ da zur Beerdigung, bissken lecker Kaffee und Kuchen – ne? Sie wissen schon. Aber nix da.«
Dafür, dass ich nicht gewusst hatte, was ich hier wollte, hatte ich reichlich Beute gemacht und verabschiedete mich schnell, bevor jetzt noch die eine oder andere Anekdote aus Frau Beckers Leben vorgetragen werden konnte.
»Ja, vielen Dank dann auch. Ich muss mal los.«
Ich schüttelte der redseligen Nachbarin die Hand, bedankte mich noch mal artig für den ausgezeichneten Kaffee und verließ schnell das Haus. Schwester Beates Aussage war immerhin bestätigt worden. Frau Becker hatte sich ihre Bestattung anders vorgestellt.
Nach dem dünnen, nahezu geschmacksfreien Kaffee brauchte ich jetzt eine ordentliche Dosis Espresso. Zehn Minuten später war ich mit der Bahn wieder in der City und marschierte ins Café Madrid. Während ich auf meinen doppelten Espresso wartete, holte ich die Broschüren aus der Tasche und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus, konnte mich aber überhaupt nicht ernsthaft konzentrieren. Kai-Uwe kam, stellte den Espresso ab und schaute mich erwartungsvoll an.
»Was?«
»Wohnst du jetzt eigentlich wieder in Bochum?«
»Was dagegen, Maître?«
»Nee. Ich dachte nur. Warst ja schon ein paar mal hier in letzter Zeit.«
»Also was? Willst du wissen, warum ich mit Riff Raff zusammen essen gehe?«
»Na ja, zum Beispiel.«
In der Hoffnung auf ein ergiebiges Schwätzchens zog er sich einen Stuhl heran.
»Er ist ein Informant. Und das war es auch schon. Brauchst dich gar nicht erst zu setzen, ich hab’ zu tun.«
Beleidigt schob er den Stuhl unter den Tisch zurück. Mein Espresso schwappte aus der Tasse.
»Was is’n mit dir los? Muss man als Medienfuzzi so sein?«
»Unter Umständen.« Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war ein Gespräch über mein Leben und die alten Zeiten mit meinem ehemaligen Schulkameraden Kai-Uwe Hasselbrink: ewig arbeitsloser, promovierter Historiker, jetzt Kneipenwirt und wahrscheinlich immer noch der schlechteste Küsser im ganzen Ruhrgebiet.
Gott sei Dank zog er sich beleidigt in die Küche zurück. Das hat man davon, wenn man in seine alte Heimat zurückkehrt: Die alten Zeiten und ihre Vertreter wissen immer noch mehr von dir als nur deinen Namen.
Während ich an meinem Espresso nippte, dachte ich darüber nach, was wohl in dem Brief von meinem Ex, den ich spontan dem Reißwolf in die Zähne geworfen hatte, gestanden haben könnte. Vielleicht stand was wirklich Wichtiges darin – hatte er etwa Aids oder Krebs? Beide Diagnosen hätten mich potenziell für einen Moment aufheitern können. Bat er mich etwa, ihm eine Niere zu spenden? Besser noch, er würde Grauen Star bekommen – eine tragische Krankheit für einen Fotografen. Oder Parkinson? Schüttelbilderknipser. Haha.
Ich machte in Gedanken die Liste der zehn schlimmsten Krankheiten für einen Modefotografen. Sie endete mit unheilbarer Farbenblindheit. Schön fand ich auch noch Alzheimer. Dann würde er binnen kurzer Zeit nicht nur mich, sondern auch all seine Model-Tussen vergessen haben, und sie ihn hoffentlich auch. Margret, lass das sein, meldete sich mein Gewissen. Ich hörte nicht hin. Zum guten Schluss kam mir allerdings auch der Gedanke, dass er in dem Brief womöglich um Verzeihung und um ein Gespräch bat. Vielleicht wollte er zu mir zurückkommen. Das wäre – alles in allem – tatsächlich die schlimmste aller denkbaren Möglichkeiten.
Meine Neugierde auf den Brief konnte ich nicht leugnen, so gerne ich es auch getan hätte. Ich starrte aus dem Fenster. Es schneite noch immer stetig und in dicken Flocken vor sich hin. Die ganze Stadt schrie mir ein einziges Mantra ins Gesicht: Happy Christmas, Happy Christmas …
Ich fand es unerträglich. Aus allen Fenstern blinkten Lichterketten in den grellsten Farben obszön aufdringliche Warnhinweise auf die zweitausendundzweite Wiederholung eines Krippenspiels mit der immer gleichen, langweiligen Stammbesetzung.
Ich machte mir nichts vor, mein Ex würde mit wem auch immer unterm Christbaum liegen und jeder würde irgendwo dieses beschissene Weihnachten feiern, nur ich nicht. Alle kriegten Geschenke, nur ich nicht. Ich würde meine zwei freien Tage, die ich Herrn Sommer aus dem
Weitere Kostenlose Bücher