totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
nachdenken, vor allem darüber, warum Herr Matti mich so schamlos angelogen hatte. Verheimlichen ist auch gelogen. Es brannte mir unter den Nägeln, ihn deswegen sofort zur Rede zu stellen. Vielleicht sollte ich aber lieber nichts überstürzen und die Information erst einmal vorverdauen. Bevor ich das Büro von Pietät Sommer wieder betreten wollte, musste ich noch etwas Zeit schinden.
Ich hatte eine Idee. Ich machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in den Salon zurück. Von Wilma war weit und breit nichts zu sehen. Also bat ich den Lehrling um das Telefonbuch von Bochum und schaute nach der genauen Hausnummer von Frau Becker. Feldsieperstraße war mir noch im Gedächtnis geblieben, die Nummer allerdings hatte ich vergessen. Ich wollte einfach mal vorbeischauen. Was genau ich da finden wollte, wusste ich noch nicht.
Bis zur Feldsieperstraße war es nicht sehr weit. Nur drei Haltestellen mit der Straßenbahnlinie 306. Na ja, dann stand ich also vor dem grauen Mietshaus, und da hatte sich das kreative Potenzial meiner spontanen Idee auch schon erschöpft. Ich schaute auf die Klingelschilder. Frau Beckers Name stand nicht mehr drauf.
»Suchen Sie jemanden, Frollein?«
Ich konnte nicht sofort orten, woher die Stimme kam. Ich trat einen Schritt aus dem Hauseingang zurück und schaute nach oben. In der ersten Etage sah ich in einem offenen Fenster ein Kissen, darauf zwei verschränkte dicke Unterarme. Gekrönt wurde das Ganze von einem riesigen Busen und darüber einem Kopf mit silbergrau-lila getönten Haaren.
»Guten Tag.«
»Suchen Sie wen?«
»Ja. Tue ich. Die Frau Becker, die wohnt doch hier?«
»Wat wollen Se denn von der?«
Ja, was wollte ich denn von der, die war ja tot?
»Äh, ich wollte … ich wollte sie besuchen.«
Supergeistesblitz, Maggie!
»Wozu?«, schnarrte die Stimme von oben.
Also, wenn Wilma eine Tante haben konnte, dann hatte ich jetzt auch eine. Zur geschmeidigeren Konversation holte ich meinen Bochumer Ruhrpott-Slang raus: »Sie is meine Tante, obwohl nich so richtich, ne alte Freundin von meine Omma – mehr so.«
»Ach so … Sie Arme. Kommen Se ma rauf.«
Das schien interessant zu werden. Ich betrat eine kleine Wohnung, wahrscheinlich so ähnlich wie diejenige, die von Frau Becker bewohnt worden war. Es roch nach Bratkartoffeln mit Zwiebeln – und gar nicht mal schlecht. Die alte Dame führte mich in ihre kleine Küche und schob mir einen Stuhl unter den Hintern, bevor ich überhaupt was sagen konnte.
»Sitzen Se gut?«
»Ja.«
Das lief ja wie geschmiert. Jetzt musste ich nur noch die Ahnungslose spielen.
Frau Beckers Nachbarin setzte sich mir gegenüber an ihren Küchentisch. »Also, die Frau Becker, die is tot. Vor ein paar Wochen schon gestorben. Wussten Se dat denn gar nich?«
»Nee. Wat Sie nich sagen. Ach, wie furchtbar«, gab ich mich angemessen bestürzt.
Die alte Dame schob mir eine Tasse Kaffee hin.
»Nehmen Se mal erst’n Schluck auf den Schrecken.«
»Wie is dat denn passiert? Die war doch noch so rüstig. Oh nee. Meine Omma und Frau Becker wollten doch noch mal zusammen nach Königswinter. Wenn ich der dat erzähl …«
Ich senkte traurig den Kopf.
»Darum hat die sich nich mehr gemeldet. Meine Omma hat gesagt, schau mal bei der Frau Becker vorbei, ob alles in Ordnung is … die meldet sich gar nich mehr.«
Die alte Dame nickte bestätigend.
»Als wenn meine Omma dat geahnt hätte.«
»Sie sagen et.«
Wir nippten während einer kleinen Schweigeminute für Frau Becker an unseren Kaffees.
Die alte Dame seufzte aus tiefster Seele und sagte: »Ja, dat is alles so schnell gegangen. Hatte die Grippe. Hatte sogar’ne Pflegerin. So’ne große, stabile. Kam bei jedem Wetter. Pünktlich auffe Minute.«
Da schwang doch ein bisschen Neid mit?
»Ja, dann war se Gott sei Dank nich alleine, ne?«
»Ach, Kindchen, wie der Deibel dat wollte. Die Pflegerin war an den Tag sogar mit ’nem Auto da. Hab’ die schicke kleine Kiste unterm Fenster stehen sehn. Vielleicht wolltense zum Arzt oder so. Aber anstatt sofort zum Arzt zu fahren, geht die vom Pflegedienst nochma einkaufen. Und als die wiederkommt, is die Frau Becker tot. Mausetot. Im Sessel. Sitzt da einfach und zack. Ich hab aber nich gesehen, wie se die abgeholt haben. Ich musste selber nochma wech.«
»Ach, wat entsetzlich.«
Ich trank den plörredünnen Kaffee und heuchelte Trauer.
»Meine Omma wär’ bestimmt gern zur Beerdigung gegangen, wenn sie wat gewusst hätte. Na, dann ruf’ ich Omma jetzt
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