totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
23. Dezember, der letzte Tag vor Weihnachten. Noch zwei Bestattungen bis dahin.
Nach angemessenen vier bis fünf Minuten, in denen ich die Spannung, wie ich hoffte, bis ins Unerträgliche gesteigert hatte, blickte ich aufmunternd in die Runde und sagte: »Danke, dass Sie gekommen sind. Den Job muss ich Ihnen wohl nicht erklären. Lassen Sie uns also gleich anfangen. Wenn Sie …«, ich schaute erst auf meine Liste und dann in die Runde, »… Herr Zeigert, sich bitte musikalisch vorstellen würden.«
Ich zeigte auf die alte Orgel, die in der hintersten Ecke des Raumes stand und eigentlich nur noch als dekorative Ablage benutzt wurde. Ich traute meinen Augen nicht. Eine neue amorphe Specksteinmasse, diesmal mit einem Loch in der rechten Pseudopodie, stand auf der Orgel. Sie war das Pendant zu der auf dem Safe, und ich fand sie nicht minder scheußlich. Mir schwante, dass aller guten Dinge drei sind und Herr Sommer bestimmt schon an einem ähnlich fiesen Objekt mit Loch in der Mitte arbeitete, um das Tryptichon des schlechten Geschmacks zu vollenden.
Herr Zeigert ließ sich von dem gelochten Monstrum aber nicht im mindesten beeindrucken und spielte nach einer kurzen Vorbereitung – er ließ alle Fingergelenke einzeln knacken – einen Walzer, und zwar so schlecht, dass auf dem Wiener Zentralfriedhof vermutlich die Gruft der Familie Strauss bereits nach vier Takten explodiert war.
Herr Matti stand am oberen Ende der Wendeltreppe, stützte sein Kinn auf das schmiedeeiserne Geländer und schüttelte den Kopf. Dieser Organist war kein Ersatz für die Prusseliese. Bei Gott nicht. Der nächste versuchte uns mit einer zittrigen Version von »Großer Gott, wir loben Dich« zu überzeugen. Es blieb denn auch beim Versuch.
Der folgende Vortrag einer sauertöpfisch aussehenden Dame mittleren Alters, die ihre Handschuhe, an denen die Fingerkuppen abgeschnitten waren, nicht auszog, ließ eine außerordentlich uninspirierte Fassung der Toccata und Fuge von Bach hören. Wer würde das für eine Beerdigung bestellen wollen? Es sei denn, man organisierte die Beerdigung von Captain Nemo oder irgendeinem anderen verrückten Wissenschaftler, der die Welt beherrschen wollte, damit aber gescheitert war.
Den vierten und fünften Vortragenden ließen Herr Matti und ich nur noch über uns ergehen. Die beiden angestaubten Herren hinterließen keinen bleibenden Eindruck. Meine Ohren hatten bereits auf Durchzug geschaltet.
Bestimmt waren sie als Alleinunterhalter auf Hochzeiten der große Knaller. Da sollten sie dann auch bleiben und stimmungsvoll in die Tasten hauen und meinetwegen alles schächten, was Noten hatte. Nein, wir waren uns einig, wir wollten keinen von diesen Möchtegernmusikern.
Also doch wieder der unvermeidliche Orgelmän? Warum war der eigentlich nicht von der Grippe dahingerafft worden?
Gerade verabschiedete ich mich von allen mit aller Höflichkeit, zu der ich noch fähig war, als die Tür aufflog und ein sichtlich bis auf die Knochen durchgefrorener junger Mann mit roten Backen im Milchgesicht und Schnee auf der Mütze durch die Tür stob.
»Bin ich zu spät?«
»Kommt drauf an, wofür«, blaffte ich.
Er strahlte mich an, und während sich die anderen glücklosen Musikanten durch die Tür nach draußen schoben, setzte er sich an die Orgel, rückte seine schneebedeckte Mütze zurecht und spielte – einen Tango, so herzzerreißend rührend und musikalisch, dass Herr Matti sich abwandte und die Treppe hinunter verschwand. Ein echtes Weihnachtswunder.
»Sie haben den Job.«
Ich brauchte keinerlei Bedenkzeit.
»Danke«, erwiderte er atemlos. »Hier ist meine Karte. Ich bin jederzeit erreichbar.«
»Übermorgen haben wir zwei Bestattungen. Können Sie um zehn und um halb zwölf?«
»Klar, ich komme.«
Ich händigte ihm die Adresse der Trauerhalle aus, mitsamt der Liste der Musikwünsche.
»Können Sie das spielen?«
»Klar. Kann ich.«
Wenn nur alles so klar wäre wie dieser Junge hier. Er ging aus dem Büro, ohne auch nur nach dem Honorar zu fragen. Ich hoffte, ich würde ihn wirklich wiedersehen. Ich schaute mir seine Karte an. Kajo Kostnitz – das kann man doch nicht erfinden, schoss es mir durch den Kopf. Kajo Kostnitz. Ich wählte seine Handynummer. Mal sehen, wie klar erreichbar er sein würde. Sofort hatte ich ihn am Apparat.
»Heißen Sie wirklich Kostnitz?«
»Klar doch. Ich wohne gerade wieder bei meinem Vater. Den kennen Sie doch.«
»Ja, aber … dann …«, stotterte ich herum.
»Ich bin
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