Totgesagt
Mindesthaltbarkeitsdatum lag noch sechs Monate in der Zukunft – also war die Wohnung auf jeden Fall kürzlich benutzt worden. In einem kleinen Mülleimer lagen das Kerngehäuse eines Apfels und zwei Bonbonpapierchen. An die Wand hatte jemand einen Zeitungsartikel geheftet, dessen Ecken sich wellten. JUNGE (10) IN DER THEMSE GEFUNDEN. Teile der Geschichte waren rot unterstrichen worden. Ich trat näher heran: 13. April 2001. Der Artikel war mehr als siebeneinhalb Jahre alt.
Ich betrat die Schlafzimmer. Beide waren leer, mit staubigen Fußböden und abplatzender Farbe an den Wänden. Auch hier waren die Fenster mit schwarzem Plastik verhüllt.
Eine dritte Tür führte ins Bad. Dort war es schmutzig. Schimmel breitete sich an den Wänden und um die Wasserhähne herum aus, wo er sich wie Ausschlag auf die emaillierten Flächen legte. Die Wandfliesen waren rissig, einige fehlten ganz. Scherben dieser Fliesen lagen in der Badewanne. Das Handwaschbecken allerdings war sauberer. Am Rand lag ein Stück Seife mit winzigen Bläschen auf der Oberfläche. Die Seife musste vor kurzem benutzt worden sein.
Zurück in der Küche, durchsuchte ich die Schränke. Zwei Kochtöpfe, eine Bratpfanne. Alles war sauber. In einer Schublade entdeckte ich Spülmittel. Cornflakes. Streichhölzer. Besteck. Orangensaft. In der kleinsten Schublade ganz unten lag ein Notizblock. Nichts war darauf vermerkt. Ich nahm ihn trotzdem an mich.
Mit den Fingern fuhr ich an den Unterseiten der Schränke entlang, dann kletterte ich hinauf und schaute mich oben um. Dort war offenbar nicht gewischt worden, seit die Schränke eingebaut worden waren. Der Staub lag mehrere Zentimeter dick.
Die Wohnung wurde offensichtlich als eine Art Basislager genutzt. Vielleicht war Alex hier sogar für eine Weile versteckt worden. Wohnen würde hier niemand. Nicht unter solchen Bedingungen. Proviant und Ausstattung reichten nicht aus für jemanden, der sich hier dauerhaft aufhalten wollte. Als Ort zum Verschwinden allerdings war diese Wohnung ideal. Der alte Mann glaubte, Gemeindevertreter hier gehört zu haben – doch da irrte er sich.
Ich betrachtete das zerschlitzte Plastik am Fenster und das aufgehebelte Schloss an der Wohnungstür. Beides würde verraten, dass jemand hier eingedrungen war. Doch jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Wer auch immer diese Wohnung benutzte, vermied den Kontakt
zu den Nachbarn und zahlte keine Miete. Niemand würde den Einbruch melden.
Plötzlich klingelte ein Telefon.
Ich blieb reglos mitten im Zimmer stehen und versuchte, mir darüber klar zu werden, ob das Klingeln aus der Wohnung kam. Als ich begriff, dass es keine andere Möglichkeit gab, betrat ich auf der Suche nach der Quelle des Läutens die Schlafzimmer.
Ich durchsuchte das erste. Nichts. Im zweiten wurde das Klingeln lauter. Ganz unten an einer der Wände befand sich eine Telefondose. Ein dünnes Kabel lief vom Boden zur Dose hinauf und wieder heraus. Es verschwand hinter einem der schwarzen Plastikbögen. Ich stieß mein Messer hinein und riss das Plastik ab. Auf der Fensterbank stand eine Basisstation mit einem schnurlosen Telefon mit digitalem Display.
Das Klingeln hörte auf.
Ich griff nach dem Telefon. Der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt. Ich ging die Optionen im Menü des Geräts durch. Keine Namen im Adressbuch. Keine Einträge in der Liste der kürzlich geführten Gespräche. Keine Nachrichten auf der Mailbox. Ich wählte meine eigene Nummer. Als mein Handy klingelte, erschien auch dort die Meldung, dass die Nummer des Anrufers unterdrückt wäre. Ich löschte meine Nummer aus der Liste der letzten Anrufe und stellte das Telefon wieder in seinen Ständer. Entweder war es nagelneu, oder jemand löschte nach jedem Telefonat alle Daten.
So oder so: Es war Zeit, zu gehen.
Ich trat zu den Fenstern im Wohnzimmer, um nachzuschauen, ob es eine Möglichkeit gab, die Plastikabdeckung notdürftig zu reparieren. Es gab keine.
Dann bemerkte ich etwas anderes: Zwei Stockwerke tiefer
stand ein Mann mit einem Handy neben meinem Wagen. Das Gerät war aufgeklappt, so als hätte er es gerade benutzt.
Der Anrufer.
Er beugte sich vor, schirmte sein Blickfeld mit den Händen ab und schaute durch das Fenster auf der Fahrerseite hinein. Eine ganze Weile blieb er so stehen. Dann richtete er sich auf, betrachtete den Wagen von vorn bis hinten und schaute hinauf zur Wohnung. Ich trat vom Fenster zurück. Wartete, sah dreißig Sekunden später zur Uhr. Als ich
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