Totgesagt
zur Gasse umwenden, als ich einen Blick nach links warf. Dann blieb ich wie angewurzelt stehen. Vielleicht vierhundert Meter von mir entfernt überquerte Jade gerade die Straße. Sie schaute in beide Richtungen, hielt eine glühende Zigarette zwischen den Fingern und setzte ihren Weg fort. Ich zögerte, plötzlich unsicher, ob sie es war.
Doch es gab keinen Zweifel.
Es war Jade.
Ich folgte ihr, wobei ich mich auf der anderen Straßenseite hielt, in die Lichtkegel der Straßenlaternen trat und wieder aus ihnen verschwand. Als ich die Höhe der Seitenstraße
erreicht hatte, aus der sie gekommen war, schaute ich hinein und sah eine große, grüne Tür, die ein Stück weit offen stand. Darüber war ein Paar Engelsflügel aus Neon angebracht. Sie hatte den Pub durch den Hintereingang verlassen – was bedeutete, dass sie wussten, dass ich auf sie wartete.
Warum lockten sie mich dann dorthin, wo Jade gerade herausgekommen war?
Weil es eine Falle ist.
Ich zögerte.
Wenn es nun eine Falle war? Wenn mich der erste Mann hierhergelockt hatte und Jade mich nun woandershin locken sollte? Wenn der Anruf vor dem Eagle Heights tatsächlich meine einzige Chance gewesen war, mich zurückzuziehen? Die Chance, die ich nicht genutzt hatte?
Sie verschwand am Ende der Straße aus meinem Blickfeld.
Ich blieb stehen, als wäre ich festgefroren. Plötzlich pulsierte Unsicherheit in meinen Adern. In den ersten paar Wochen nach Derryns Tod hatte ich mich genauso gefühlt. Als stünde man am Rand eines Abgrunds und schaute zu, wie ringsum der Boden wegbröckelt.
Dann aber sah ich mein Spiegelbild in einem nahen Schaufenster. Sah die Richtung, die mein Leben durch diesen Fall erhalten hatte, die Energie, die er mir zurückgegeben hatte. Und mir wurde klar, dass – falls es mit mir vorangehen sollte – ich die Angelegenheit weiter verfolgen musste. Es war ein Schritt, den ich gehen musste.
Also folgte ich ihr.
Als ich die Straßenecke erreichte, sah ich Jade rund vierzig Meter vor mir. Sie überquerte die Straße und näherte sich dem schmalen Eingang zu einer nur teilweise beleuchteten Hintergasse. An der Ecke befand sich ein Restaurant,
dessen Fassade mit Lametta und Christbäumen geschmückt war. Ansonsten handelte es sich um eine typische Londoner Gasse voller Notausgänge und Fenster im zweiten Stock.
Als ich näher an sie herankam, drosselte ich mein Tempo.
»Jade?«
Sie blieb stehen. Drehte sich um. Im ersten Moment konnte sie mich nicht sehen. Dann trat ich aus der Dunkelheit heraus und stellte mich unter das Licht eines Christbaums.
Ihre Kinnlade fiel herab. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Pelzmantels. Eine Reflexhandlung. Sie fühlte sich von mir bedroht. Vielleicht hatte sie doch nicht den Lockvogel gespielt.
Ich hielt eine Hand hoch. »Ich will Ihnen nichts tun.«
Sie antwortete nicht. Ihre Blicke huschten nach links und rechts.
»Ich will nur mit Ihnen reden.«
Sie nickte zögernd.
»Wollten Sie mich irgendwohin locken?«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich habe versucht, vor Ihnen zu flüchten .«
»Warum?«
»Weil Sie nur Ärger machen.«
»Wussten Sie, dass ich gekommen war?«
Sie nickte. »Einer der Jungs hat Sie vor der Tür gesehen.«
Der Kerl mit dem Eiskübel.
»Warum der Köder?«
Wieder runzelte sie die Stirn.
»Der ungepflegte Typ.«
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
»Der Typ, der mich auf Ihre Spur gelockt hat. Was sollte das?«
Sie zuckte die Schultern und wandte den Blick ab. Doch als sie sich mir wieder zuwandte, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert. Sie wirkte jetzt irgendwie erleichtert. Als wäre sie gerade zur wichtigsten Entscheidung ihres Lebens gelangt.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich will mich nur unterhalten.«
Wieder zuckte sie die Schultern und nickte. »Dann unterhalten wir uns eben.«
Während wir nebeneinander hergingen, wurde ihr Blick finsterer, undurchdringlicher. Ich versuchte herauszufinden, ob sie ängstlich oder zuversichtlich war, oder beides. Als wir das Auto erreichten, gab ich meine Mutmaßungen auf. Wahrscheinlich fühlten Männer sich schnell und bereitwillig von ihr angezogen – und verschwanden dann ebenso schnell, wenn sie begriffen, dass Jade sie nie wirklich an sich herangelassen hatte.
»So etwas fahren Sie also?«, fragte sie mit einem Blick auf den BMW.
»Genau.«
»Ich hatte mit etwas Besserem gerechnet.«
»Ich bin nicht wirklich Magnum, Jade.«
Sie schaute hinein, dann wieder zu mir, als versuchte sie, die
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