Totgesagt
auf den Weg zur Rückseite der Kirche. Das Gebäude besaß eine Alarmanlage. Ich sah einen blinkenden Kasten hoch oben neben der Christus-Statue – der Anbau allerdings war nicht gesichert. Wahrscheinlich hatten sie bis jetzt noch keine Möglichkeit gehabt, ihn zu verkabeln.
Es gab zwei Schlösser, für die man zwei verschiedene Schlüssel brauchte. Da es sich um eine Holztür handelte, war diese Sicherheitsmaßnahme allerdings eher symbolischer Natur. Ich steckte mein Taschenmesser in den Spalt zwischen Tür und Rahmen und machte mich an die Arbeit. Das Holz begann sofort zu splittern. Ich sah die Zylinder der beiden Schlösser. Weiteres Holz splitterte in dünnen Streifen ab. Ich stieß sie mit dem Fuß zur Seite und sah mich kurz um. Dann versuchte ich, die Tür aufzuhebeln.
Meine Hände wurden schnell taub. Die Luft war frostig, deutlich kälter als in den letzten Tagen. Ich setzte meine Arbeit fort und drang immer tiefer vor, wobei ich mit der Kälte nicht weniger zu kämpfen hatte als mit dem Holz. Schließlich gelang es mir, gleich ein ganzes Brett zu lockern. Ich riss es heraus und warf es weg. Mit einem dumpfen Aufprall landete es im Schnee.
Zur Vorsicht steckte ich eine Hand durch das Loch und bewegte sie hin und her. Zehn Sekunden vergingen. Kein Alarm. Wieder griff ich nach drinnen, sperrte den Riegel auf und öffnete die Überreste der Tür.
Drinnen war es dunkel, doch ich hatte eine Stiftlampe bei mir. Zuerst ging ich zum Schreibtisch. Es gab drei Schubladen, die alle verschlossen waren. Ich nahm die Lampe zwischen die Zähne und hebelte mit dem Messer die obere Schublade auf. Sie ergab sich ohne große Gegenwehr. Darin befanden sich mehrere Stifte, eine paar Umschläge und ein Rundbrief der Kirchengemeinde. Die zweite Schublade war leer. In der dritten lagen vier Aktenmappen, ebenfalls alle leer.
Neben der Tür waren die Kisten aufgestapelt, die Michael noch nicht ausgepackt hatte.
Ich blieb einen Moment still stehen. Lauschte. Ich wusste, dass das Wetter auf meiner Seite war: Der Schnee würde unter menschlichen Schritten knirschen, sodass ich jeden hören würde, der sich der Tür näherte. Tatsächlich war es inzwischen so still, dass jedes Geräusch schon von der Hauptstraße herüberdringen würde.
Ich wandte mich der ersten Kiste zu, öffnete den Deckel und blickte auf ein großes Durcheinander: Bücher, Zeitschriften, Ordner voller Notizen und Fotos. Ich nahm sie heraus. Auf allen Bildern war Michael zu sehen: mit seiner Mum und seinem Dad; mit einem Mädchen, das seine Freundin oder seine Schwester sein konnte; mit Freunden bei einer Party zum einundzwanzigsten Geburtstag. Eines zeigte ihn beim Gottesdienst, hoch oben auf der Kanzel, eine Hand auf die Bibel gelegt.
Ein Stück weiter unten sah ich ein anderes Foto, das halb aus einem Umschlag gerutscht war.
Ein Junge lief auf einer Grasfläche hinter einem Fußball her. Jade hatte das gleiche Bild besessen. Ich drehte es um. Auf der Rückseite stand dieselbe Nachricht: Dies ist der Grund, warum wir es tun.
Ich warf die Fotos wieder auf die Bücher und zog die
Kiste von dem Stapel. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie auf dem Boden. Der Inhalt der zweiten Kiste unterschied sich kaum von dem der ersten. Ganz an der Seite allerdings entdeckte ich ein kleines Adressbuch, auf das jemand Kontaktnummern geschrieben hatte.
In dem Büchlein befanden sich alphabetisch geordnete Namen mit Adressen, Seite um Seite. Meistens handelte es sich um Anschriften aus der Gegend – Redbridge, Aldersbrook, Leytonstone, Woodford, Clayhall -, doch es gab auch einige in weiter entfernt liegenden Orten wie Manchester oder Birmingham. Ich blätterte das Büchlein durch und hielt bei jedem neuen Buchstaben inne, um zu schauen, ob mir einer der Namen etwas sagte. Doch das taten sie nicht.
Bis zum Buchstaben Z.
Ganz am Ende des Büchleins fand ich einen Namen, den ich kannte: Zack. Ich zog meinen Notizblock aus der Tasche und blätterte zurück zu den Namen, die ich in der Wohnung in Brixton gefunden hatte; Stephen, Paul, Zack .
Sein Eintrag hatte keinen Nachnamen, dafür allerdings eine Adresse in Bristol – und noch etwas anderes.
Eine dünne Linie führte direkt zu einem zweiten Namen: Alex.
25
Ich brauchte drei Stunden für die Strecke nach Bristol. Als ich die Autobahn verließ, war es zwei Uhr morgens. Ich hatte dringend eine Pause nötig. Eine Weile ließ ich mich einfach weitertreiben, tiefer und tiefer in die menschenleere Stadt hinein, bis
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