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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Weaver
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immer noch offen. Die Tür, die mir am nächsten lag und die hinaus in den Flur führte, war geschlossen. Hinter dieser Tür hörte ich Schritte. Durch die Ritze unter dem Türblatt sah ich einen Schatten vorbeihuschen. Jemand bewegte sich durch den Flur. Ich sah zu dem auf dem Sofa ausgebreiteten Jungen hinunter, der das Bewusstsein verloren hatte, und entdeckte noch etwas anderes: ein leeres Glasfläschchen, an dessen Hals der Kunst-stofffilm von einer Nadel durchstochen war. Auf dem Etikett stand KETAMINE.
    Aus der Küche drang ein Geräusch herüber.
    Ich ging zur Flurtür und öffnete sie langsam. Ich wartete. Ich hörte, wie sich jemand in der Küche bewegte. Schubladen wurden geöffnet. Rechts von mir war die Haustür geschlossen worden, auf der Fußmatte lag Schnee. Links sah ich den Schwarzen, der mir auf der Straße nachgerufen hatte. Er war schätzungsweise Anfang dreißig, nicht größer als einsachtundsiebzig, aber kräftig gebaut: Unter der Haut an Nacken und Schultern zeichneten sich die Muskeln ab, und aus einem Augenwinkel zog sich eine Vene hinauf auf seinen kahl rasierten Schädel. Er schaute durch die Küchentür hinaus in den Garten.
    Ich drehte mich zu dem Jungen um. Seine Augen waren geschlossen, doch der Mund stand offen. Seine Zunge hing heraus und lag auf der Unterlippe, als wäre sie zu groß für den Mund. Sein Zahnfleisch blutete. Als die Zunge wieder verschwand, entdeckte ich noch etwas anderes: Er hatte keine Zähne.

    Sie fehlten alle.
    Er hustete. Das Geräusch wurde durch Speichel und Erbrochenes beinahe erstickt, war aber dennoch laut genug, um im ganzen Haus gehört zu werden. Der Mann in der Küche drehte sich um und schaute mich durch den Flur hindurch an.
    Und er lächelte.
    Ich ging zur Haustür, doch ehe ich sie erreichte, wurde sie von außen geöffnet. Evelyn trat ein, die Wangen gerötet und einen Ausdruck des Ärgers im Gesicht. Den Bruchteil einer Sekunde später hob sie den Arm. In der Hand trug sie eine Pistole, die sie in Richtung meines Gesichts schwenkte. Instinktiv taumelte ich zurück und riss die Hände hoch, um mich zu schützen. Die Mündung blitzte auf, und ehe ich begriff, was los war, hatte sich die Kugel ein Stück links oberhalb von mir in die Wand gebohrt. Der Putz spritzte auf und hinterließ eine Staubwolke, dann hörte ich einen zweiten Schuss, diesmal lauter.
    Ich hielt beide Hände hoch.
    »Evelyn, nein …«
    Mit vorgestreckter Pistole kam sie auf mich zu. Im Licht, das von außen hereindrang, blitzte die Waffe auf. Sie war neu und in bestem Zustand. Eine Pistole, die bis heute kein einziges Mal abgefeuert worden war.
    Sechzig Zentimeter vor mir blieb sie stehen. Jeden Moment würde sie mir in den Kopf schießen. Sie richtete die Waffe direkt auf eines meiner Augen und hielt sie unglaublich ruhig. Sie hatte den Griff derart fest gepackt, dass der Schweiß auf ihrer Hand glänzte.
    »Was machst du hier, David?«
    Ich sagte nichts. Ich hatte das schreckliche Gefühl, sie würde schießen, sobald ich etwas sagte, obwohl ihre Stimme sanft, beinahe bewundernd geklungen hatte. Obwohl
ich sie vor Derryns Tod gekannte hatte, mit ihr geredet und gelacht hatte.
    »Was machst du hier?«, wiederholte sie.
    Jetzt roch ich nur nur das Kordit. Ein Geruch, der mich daran erinnerte, wie ich vor Sonnenaufgang durch die Townships gefahren war. Hinter mir hörte ich, wie der Mann sich näherte. Ich bewegte mich nicht. Jede Bewegung konnte für sie ein hinreichender Anlass sein, den Abzug zu betätigen.
    »Du hättest uns in Ruhe lassen sollen«, sagte sie.
    Sie trat noch näher auf mich zu. Mein ganzer Körper versteifte sich, und ich senkte den Kopf, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. Das Nächste, was ich spürte, war die Mündung in meinem Nacken. Sie stand jetzt hinter mir.
    »Hörst du mich, David? Du hättest uns in Ruhe lassen sollen.«
    »Ich will nichts von dir, Evelyn. Ich will diese Situation nicht.«
    Sie sagte kein Wort.
    Ich drehte mich ein winziges Stück um und sah sie hinter dem Schwarzen stehen. Jetzt hatte er die Pistole in der Hand und zielte auf mich.
    »Ich will nichts von euch beiden. Ich will nur Alex.«
    »Alex ist nicht …«
    »Es reicht, Vee«, sagte der Schwarze.
    Er trat einen Schritt vor. Nahm die Waffe in die andere Hand, drehte sie um und schlug mir damit ins Gesicht, ehe ich überhaupt reagieren konnte.
    Dann wurde mir schwarz vor Augen.

26
    Ich öffnete die Augen. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein rotes Backsteingebäude. Es war

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