Totgesagt
ich eine dunkle Stelle in der Nähe eines Verschiebebahnhofs entdeckte. Ich parkte dort unter einer
Brücke und ließ die Heizung noch eine Stunde laufen. Dann stellte ich den Motor ab und schlief ein.
Als ich mit einem Ruck wieder aufwachte, war es hell – beinahe Mittag. Neuer Schnee war gefallen und hatte sich hinter der Brücke und rings um den Wagen ausgebreitet. Im ersten Moment fühlte ich mich völlig durchgefroren und desorientiert, als wäre ich allzu plötzlich aus meinem Schlaf gerissen worden. Vielleicht würde es von nun an immer so sein: Jeder Schlaf wurde von dem Gefühl begleitet, dass man mich beobachtete.
Ich ließ den Motor an und machte mich auf den Weg.
Die Adresse auf dem Zettel führte mich zu einem Haus in St. Philipp’s. Es war eine hässliche Gegend und eine hässliche Straße, die an eine Industriebrache aus verfallenem Beton und ein imposantes viktorianisches Fabrikgebäude grenzte. Ich fuhr einmal im Kreis herum – auf die Hauptstraße und an der Rückseite entlang zurück – und schließlich an dem Haus vorbei.
Tief in meinen Sitz gedrückt wartete ich und behielt die Straße im Auge. Nach einigen Minuten brauste ein Bus zu einer Haltestelle am Ende der Straße. Ein älteres Paar stieg aus. Hinter ihnen überquerte ein Schwarm von Kindern die Straße, dicht aneinandergedrückt, die Reißverschlüsse ihrer Jacken bis zum Kinn hochgezogen. Das ältere Paar kam an meinem Wagen vorbei und beäugte mich misstrauisch.
Vor mir tauchte ein Astra auf, der mit zwei Rädern auf den Bürgersteig und wieder herunterfuhr. Dreißig Zentimeter vor meinem Wagen blieb er stehen. Die Frau hinter dem Steuer hatte die Kapuze ihrer Jacke hochgezogen. Sie schaute in den Rückspiegel, griff nach irgendeinem Gegenstand und stieg aus.
Ein schneidender Wind fuhr durch die Straße und ließ
mehrere ihrer Haarsträhnen flattern, die aus der Jacke herausschauten. Sie drückte die Wagentür mit dem Po zu und jonglierte mühevoll mit ihrer Einkaufstasche und den Autoschlüsseln. An ihrem Schlüsselring hing ein silbernes Kruzifix, das gegen die Wagentür schlug, als sie das Auto abschloss.
Sie ging die Straße hinauf. Ihre Kapuze bauschte sich in einem Windstoß zu einem Ballon auf. Diesmal war die Bö stärker und ließ sie beinahe die Balance verlieren. Als ihr Fuß den Bürgersteig verfehlte und auf der Straße landete, fiel ihre Einkaufstasche plötzlich zu Boden, und Obst kullerte über den Asphalt. Sie blieb stehen, sah sich die Bescherung an und bückte sich schließlich, um alles wieder aufzusammeln. Als ein dritter Windstoß sie erfasste, stützte sie sich mit der flachen Hand auf der Straße ab. Die Kapuze wurde ihr vom Kopf geweht und brachte einen zerzausten schwarzen Haarschopf zum Vorschein.
Plötzlich schaute sie in meine Richtung. Erstarrte. Schaute weg. Ich registrierte, wie ihre Hände schneller nach dem restlichen Obst griffen. Mit einem Mal wirkte sie nervös. Sie langte nach einem Apfel und ließ ihn wieder fallen. Gleich darauf wiederholte sich das Schauspiel, und ein weiterer Apfel kullerte über die Straße. Und noch einer.
Eigenartigerweise stand sie plötzlich einfach auf und ging weiter, während ein Teil der Früchte noch immer im Rinnstein lag. Es interessierte sie nicht mehr. Auch die Tasche balancierte sie noch waghalsiger als zuvor. Beim Gehen tastete sie mit der freien Hand nach den Schlüsseln. Wieder fiel Obst aus der Tasche und rollte auf die Straße. Sie sah sich nicht einmal mehr danach um. Sie ging einfach weiter und blieb erst vor ihrer Haustür stehen.
Es war das Haus, das ich beobachtet hatte.
Sie stellte die Tasche auf dem Boden ab und suchte nach
dem Hausschlüssel. Einen nach dem anderen ging sie sämtliche Schlüssel durch, bis sie den richtigen gefunden hatte. Dann umfasste sie ihn und schaute wieder in meine Richtung. Sie gab sich Mühe, den Kopf dabei stillzuhalten und nur die Augen zu bewegen.
Sie starrte mich an.
Und in diesem Moment wurde es mir klar.
Ihr Haar hatte eine andere Farbe, war länger und widerspenstiger. Das Gesicht war blass und angespannt. Älter. Verwitterter. Vielleicht hatte sie sogar ihre Nase operieren lassen. Sie lief vorn zu einer schmalen Spitze zu. Als sie noch im Angel’s gearbeitet hatte, war sie breiter und fleischiger gewesen. Aber sie war es.
Es war Evelyn.
Ich stieg aus dem Wagen, schaltete die Alarmanlage ein und folgte ihr. Je näher ich kam, desto hektischer wurde sie. Es gelang ihr nicht, die Tür
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