Totgesagt
die Fabrik, die ich bei meiner Ankunft gesehen hatte. Sie stand verlassen und baufällig da, Graffiti zierten die Wände, und die Türen waren aus den Angeln gerissen. Vor mir lag eine weite Betonfläche, durch deren Risse Unkraut wucherte. Hier und dort waren einzelne Flecken von Schnee zu erkennen.
Sie hatten mich geknebelt. Sobald ich mich bewegte, spürte ich, dass meine Hände gefesselt waren. Meine Füße schienen mir gefühllos. Ich trug Jeans, T-Shirt und Fleecejacke, doch den Mantel hatte man mir weggenommen, ebenso Schuhe und Socken. Ich saß barfuß da, die Füße direkt auf dem Boden. Die Kälte drang mir schmerzhaft in die Knochen. Inzwischen neigte sich die Abenddämmerung ihrem Ende zu, und die letzten Spuren des Tageslichts am Himmel waren im Verschwinden begriffen. Die Nacht schlich sich heran.
Ich horchte. Die Geräusche vorbeifahrender Autos von einer entfernten Straße waren das Einzige, das ich hören konnte. Ungefähr vierzehn Meter seitlich von mir entdeckte ich zwei Rechtecke aus alten Mauerresten; die Skelette von Außentoiletten, die einmal auf dem Gebäude gestanden hatten, aber längst in Vergessenheit geraten waren.
Das war der entscheidende Punkt. Niemand verirrte sich hierher.
Niemand würde mich finden.
Ich hörte, wie sich etwas bewegte, wahrscheinlich Vögel, die mit den Flügeln schlugen. Ich sah, wie links von mir etwas aufflog. Dann hörte ich Schritte. Schutt wurde über den Beton gestoßen, und Schnee knirschte. Jemand, den
ich nicht sehen konnte, näherte sich. Ich versuchte, mich zu bewegen, doch der Schmerz hämmerte durch meinen ganzen Körper. Ich spürte die Prellungen um den Kiefer herum und am Hinterkopf. Als ich versuchte, mich umzudrehen, schoss mir ein stechender Schmerz vom Mund bis zum Auge. Es fühlte sich an, als würde mir Blut übers Gesicht laufen.
Im nächsten Moment registrierte ich einen schneidenden Wind, der über die offene Fläche fegte. Und mit dem Wind kam ein Geruch. Es roch nach etwas Warmem und Zuckersüßem wie aus einer Bonbonfabrik. Als der Wind sich legte, spürte ich jemanden atmen, direkt an meinem Ohr. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, die Fassung zu bewahren, doch einen Unbekannten derart in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen ließ mich erschaudern. Vielleicht machte es ihnen Spaß: Wer immer da hinter mir stand, trat jedenfalls ein Stück zurück, als hätte er soeben einen kleinen Sieg errungen.
Kurz erwog ich, um Hilfe zu rufen und so viel Lärm zu machen, wie ich konnte. Doch ich hatte keine wirkliche Chance. Hier draußen, so weit weg von der Straße, würde mich niemand hören. Und selbst wenn es mir gelänge, die Fesseln irgendwie abzuschütteln und zu fliehen, wüsste ich nicht, in welche Richtung ich laufen musste. Ich würde wie mit verbundenen Augen ins Dunkle rennen.
Wieder kam Wind auf. Lauter und kälter diesmal.
»Evelyn?«
Der Knebel dämpfte meine Stimme. Ich räusperte mich und spürte, wie meine Muskeln sich verkrampften. Wieder pochte der Schmerz in meinem Kopf, und als es vorbeiging, war mir schwindlig und übel. Ich versuchte, ihren Namen zu wiederholen, doch die Silben blieben mir im Hals stecken. Als ich mich noch mehr anstrengte, um sie mit Gewalt
über meine Lippen zu zwingen, spürte ich wieder dieses Atmen an meinem Ohr. Nur dass ich diesmal auch die Lippen spürte – Haut, die meine Haut streifte, ganz kurz nur, doch lange genug. Ich schüttelte den Kopf, von einer Seite zur anderen – und spürte wieder die Berührung.
Schritte im Schnee, die sich nach hinten entfernten.
Ich drehte den Kopf, weil ich unbedingt sehen musste, wer hinter mir war. Doch während ich mich noch abmühte, wurde eine Hand nach mir ausgestreckt, die mich unter dem Kinn packte. Ein Daumen drückte sich in meine Wange.
»Mach das nicht noch mal.«
Ein Mann.
Er ließ mein Gesicht los und drückte meinen Kopf nach vorn, sodass mein Kinn meine Brust berührte. In dieser Stellung hielt er meinen Kopf fest. Ich sah, wie Blut aus meinem Gesicht in den Schnee zwischen meinen Beinen tropfte.
»Bleib so«, sagte er. »Und schließ die Augen!«
Ich schmeckte das Blut auf meiner Zunge. Er hatte so fest zugedrückt, dass meine Zähne sich in meine Wange gebohrt hatten. Ich spuckte in den Schnee und sah, wie die blutige Flüssigkeit sich in dünnen Linien ausbreitete, als würde sie durch Adern gepumpt.
Hinter mir räusperte sich der Mann. Wieder hörte ich knirschende Schritte im Schnee, die sich zunächst entfernten und dann
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