Totsein ist Talentsache (German Edition)
beschäftigt und duldet keinerlei Unterbrechung. Am besten, Herr
Schanne, bemerkt er gar nicht, dass Sie da sind.“
Mit fein manikürten Händen stößt Johann
Schmid die imposanten Flügeltüren auf, macht zwei tänzelnde Schritte in das
riesige Büro und bleibt mit einem devoten Kopfnicken in Richtung Schreibtisch
stehen.
Der Sprecher und persönliche Assistent von Friedrich Gross ist sich
seiner Pflichten in jedem Augenblick seines Daseins bewusst. Er hält seinem
Vorgesetzten den Rücken frei – beruflich wie privat. Er regelt die interne und
externe Korrespondenz und sorgt für gute Presse. Außerdem erledigt er sämtliche
Telefonate, schickt in Friedrichs Namen regelmäßig Blumen an Sophie und kleine
Geschenke an Anna. Und bemüht sich um die Befriedigung jener Neigungen, die
nichts mit der Bank zu tun haben.
Es ist nicht immer leicht, diesem Herrn zu dienen. Schließlich zählt
Friedrich Gross zu den Außerordentlichen. Und die haben nun mal besondere
Bedürfnisse.
Urlaub, Freizeit und Privatsphäre sind Fremdwörter für Johann. Seinen
42. Geburtstag vergangene Woche hat er, wie schon die letzten zehn, mit seinem
Lebensmenschen verbracht: Friedrich Gross. Die Feier ist idyllisch verlaufen.
Johann hat sich ein Glas Sekt gegönnt, während sich Friedrich im Nebenzimmer
einem hinreißenden Zwillingspärchen gewidmet hat.
Seit Jahren leidet Schmid an Schlafstörungen und wiegt für seine
knapp 180 Zentimeter Körpergröße viel zu wenig. Die Ringe unter den Augen, das
blasse Gesicht und seine hagere Gestalt kaschiert er geschickt mit Unmengen an Make-up
und teuren Maßanzügen. Nicht, dass ihn das grundsätzlich stören würde.
Fallweise sorgt ein nervöses Zucken seiner Nackenmuskulatur für
bizarre Verrenkungen des Kopfes. Um davon abzulenken, hat er sich angewöhnt,
jedes Mal rhythmisch die Hüfte zu schwingen und mit seinen Fingern zu
schnipsen. In der Gesamtheit sieht das dann aus, als würde eine Marionette in Designerklamotten
Discofox tanzen.
All das ist jedoch ein vergleichsweise geringer Preis, den Johann
gerne bereit ist zu bezahlen. Denn er kann, darf und hat durch seine Position
weit mehr als die meisten anderen. Johanns Motto: Fressen oder gefressen
werden. Dabei ist Schmid eigentlich nicht so der Ellbogentyp. Aber er ist
verständlicherweise lieber der Angelhaken, als der Wurm. Oder gar der Fisch.
Eigentlich wäre er am liebsten eine Meerjungfrau.
Als herzerwärmend sympathisch kann man
Johann vielleicht nicht bezeichnen. Aber er ist Dr. Gross gegenüber
hundertprozentig loyal und erfüllt seine Pflichten mehr als nur gut. Und das
bleibt auch an höchster Stelle nicht unbemerkt. Andernfalls wäre Johann schon
lange nicht mehr, wo und was er ist.
Schanne steht noch immer im Türrahmen und
fragt sich, was er hier eigentlich soll. Er hat gewusst, dass das Interview
strengen Auflagen unterliegen wird. Aber dass er jetzt zu tatenlosem Herumstehen
verurteilt scheint, ärgert ihn ungemein. Schließlich ist er ja nicht irgendein
kleiner Redaktionsgehilfe, sondern Ressortleiter und zum dritten Mal in Folge
Mitarbeiter des Monats. Das verdient Respekt. Aber Friedrich Gross ist von den
Bildschirmen und Aktenordnern auf seinem imposanten Schreibtisch beinahe
vollkommen verdeckt und hat seinen Gast noch gar nicht bemerkt. Schanne
schluckt seinen verletzten Stolz runter und tritt in den Raum. Mit einem
breiten Grinsen und ausgestreckter Hand durchschreitet er das Büro. „Dr. Gross!
Es ist mir eine außerordentliche Freude, dass Sie mir die Ehre…“ Weiter kommt
er nicht. Wie ein aufgescheuchtes Huhn schießt Johann Schmid auf ihn zu, hält
ihn am Arm fest und sagt: „Nichts anfassen, hab ich gesagt. Ihn schon gar
nicht.“ In diesem Moment taucht Friedrichs Kopf über einem der Bildschirme auf.
Statt eines Grußes tönt nur ein unfreundliches Grunzen quer über den
Schreibtisch, ehe das ernst blickende Gesicht wieder hinter den Bildschirmen
verschwindet. „Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. Wie
wahr, offenbar.“ Nachdenklich betrachtet Schanne den grauen Haarschopf – das Einzige,
was von Gross noch sichtbar ist.
Obwohl der Bankier mit seinen 54 Jahren schon zum alten Eisen zählt,
hat er sich die sportliche Figur aus jüngeren Tagen bewahrt. Schlank, fast
sehnig wirkt er in seinem dunkelgrauen Anzug, nur die einst kerzengerade
Haltung hat Einbußen hinnehmen müssen. Aber das fällt ohnehin kaum auf, da man
ihn eigentlich nur hinter seinem Schreibtisch sitzend
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