Totsein ist Talentsache (German Edition)
einen Augenblick lang, wie er angestrengt die Tastatur
malträtiert. Dann dreht sie sich um, wählt in ihrem Telefon die Menüfunktion Mikro und hält es der wieder Auferstandenen mit einem bedauernden „Ein
absatzschwacher Abend, was?“ unter die offensichtlich erst kürzlich operierte
Nase.
Sophie ist noch wach und wartet. Das tut sie jedes
Mal, wenn ihr Kind unterwegs ist. Sophie hält das Alleinsein manchmal nicht so
gut aus. Deshalb ist sie froh, dass Anna nicht ausgezogen ist. Nicht so richtig
zumindest. Sie hat während ihres Studiums - vielleicht aus Anhänglichkeit, ganz
sicher aber aus Bequemlichkeit - das Gästeappartement bezogen, das einen Teil
der 400 m² großen elterlichen Dachgeschosswohnung bildet. Hier hat sie ihr
eigenes Reich mit zwei geräumigen Zimmern, einem Bad und sogar einer Küche.
Nicht, dass Anna sie jemals benützen würde. Sie sieht keinen tieferen Sinn im
Kochen. Ihre Bibliothek enthält nicht ein einziges Kochbuch. Um selbstständigen
Küchenexperimenten erfolgreich aus dem Weg gehen zu können, liegt das Hotel
Mama schließlich nahe genug. Ebenso wie der mütterliche Kleiderschrank, der
meistens direkt im Anschluss an den Kühlschrank geplündert wird.
Anna nutzt den Umstand, dass ihre Mutter fast genauso
schlank und nur geringfügig kleiner ist als sie selbst, weidlich aus. Auch wenn
Sophie hinsichtlich tragbarer Kombinationen bisweilen Schwächen offenbart,
beweist sie doch zumindest beim Einkaufen teuren Geschmack. Das bringen ein
übervolles Bankkonto und die Eitelkeit einer Mittfünfzigerin so mit sich. Aus
denselben Gründen lässt Sophie ihr schulterlanges Haar kastanienbraun färben
und genehmigt sich in immer kürzeren Abständen ein paar Tage auf exklusiven
Schönheitsfarmen.
Ist der
kulinarische, modische und soziale Bedarf gedeckt, zieht sich Anna in ihre
eigenen vier Wände zurück. Sophie respektiert die Privatsphäre ihrer Tochter
und betritt niemals unaufgefordert deren Appartement. Denn schließlich gibt es
da noch den Lift. Dieses steinalte Ungetüm aus Schmiedeeisen, Holz und rotem
Plüsch fährt per Schlüsselsteuerung direkt ins Dachgeschoß. Um in ihre Wohnung
oder zum Aufzug zu gelangen, muss Anna den elterlichen Vorraum durchqueren. Hat
Sophie Langeweile, Sehnsucht oder Kummer, muss sie sich nur vor den Lift setzen
und warten. Im Laufe der Jahre hat sie sich dort recht hübsch eingerichtet:
Rechts neben einem kleinen Sofa steht ein Minikühlschrank mit Getränken, links
ein Beistelltischchen mit Zeitschriften. Wie in einem Wartezimmer. Es fehlt
eigentlich nur mehr ein Pult, hinter dem eine schlecht blondierte Empfangsdame
gelangweilt an ihren viel zu langen Fingernägeln herumfeilt.
Sophie hat den ganzen Abend damit verbracht, durch
die riesige Wohnung zu geistern. Im Ankleidezimmer hat sie ihre Garderobe nach
Anzahl der Knöpfe und Größe der Wäschemarken sortiert. Im Badezimmer hat sie
sich auf die Suche nach grauen Haaren gemacht und festgestellt, dass sie den
Frisör wechseln muss. Im Fitnesszimmer hat sie 30 Minuten auf dem Heimtrainer
und 15 Minuten in der Infrarotkabine verbracht – beides in einem dunkelblauen
Abendkleid. Im Salon hat sie die goldenen Kordeln der Vorhänge und Pölster erst
frisiert und dann zu kleinen Zöpfchen geflochten. In der Küche hat sie sich ans
Verkosten verschiedener Cocktails gemacht und anschließend ein wenig auf den
Terracottafliesen vor dem Backrohr geschlummert.
Nur das
Schlafzimmer hat Sophie wieder nicht betreten. Sie meidet diesen Raum schon
lange. Zu lebhaft und schmerzvoll sind die Erinnerungen an früher. Als
Friedrich noch ihr Ehemann und nicht „der Große“ gewesen ist. Bevor er anders
geworden ist. Bevor alles anders geworden ist. Sie schläft seither im
Gästezimmer. Selbst, wenn Friedrich zuhause ist.
Sophie erwacht von einem leisen Geräusch.
Hoffnungsvoll blickt sie sich um, erkennt aber schnell, dass es nur das Holz
ist, das im Kamin knistert. Mit einer raschen Handbewegung wischt sie etwas
Speichel aus dem linken Mundwinkel und rappelt sich unbeholfen auf: „Wo bleibt
das Kind nur? So lange kann eine Party doch gar nicht dauern, zumindest nicht
für eine Journalistin.“
Sie fragt sich oft, warum sie ihre Tochter dazu
gedrängt hat, einen Job anzunehmen. Nötig hätte sie es ja nicht. Die Familie
ist so unverschämt reich, dass sie ein Leben in Saus und Braus führen kann.
In klaren Momenten fällt es Sophie wieder ein: Anna
soll es besser haben als sie selbst. Denn Anna soll in der
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