Totsein verjaehrt nicht
Straße? Ich war die verantwortungslose Mutter mit dem schlechten Lebenswandel. Ich war der letzte Dreck, weil ich angeblich, anstatt mich um meine Tochter zu kümmern, mit Männern ins Bett geh und mich rumtreib. Mein Foto war in den Zeitungen. Wenn ich geheult hab, hieß es, ich tu bloß so. Wenn ich mit niemand sprechen wollt, hieß es, ich hab was zu verbergen. Ich war Freiwild. Und ihr habt nichts dagegen getan, ihr habt mich nicht beschützt, ihr habt gewartet, dass ich endlich auspack und gesteh. Hab ich gestanden? Habt ihr mich so weit gebracht, dass ich alles sag, was ihr von mir wollt? Mich kriegt niemand klein. Da können Sie noch so lang da stehen und auf mich runterschauen. Dagegen bin ich immun.«
»Ich schaue nicht auf Sie runter«, sagte Fischer. »Ich will verstehen, warum Ihre Tochter, falls sie tatsächlich noch lebt, keinen Kontakt mit Ihnen aufnimmt.«
»Das ist leicht zu verstehen. Meine Tochter lebt nicht mehr.«
Sie senkte den Kopf, verharrte, leckte sich die Lippen. Eine Minute verging mit nichts als den gedämpften Stimmen vom Flur, dem fernen Klappern von Geschirr, dem Geräusch des Windes. Fischer hätte noch lange zuhören können.
»Ich werd weggehen«, sagte Michaela Peters, ohne den Kopf zu heben. »Er wird ausrasten. So ist er. Er ist schon bei Scarlett immer ausgerastet, wenn sie geschrien oder was getan hat, was er nicht wollt. Da war sie noch im Kindergarten. Er ist halt etwas selbstgefällig, er setzt sich gern durch, egal, ob er im Recht ist oder nicht. Wahrscheinlich braucht er das. Hat mich nie gestört. Ich geh nicht wegen ihm weg.«
Sie wartete auf eine Reaktion, aber Fischer hob nur denKopf. Nicht wegen ihr, das glaubte sie nur, sondern wegen einer Stimme draußen auf dem Flur. Sie kam ihm vertraut vor. Dann nicht mehr.
»Ich zieh zu meiner Mutter«, sagte Michaela Peters. »Die hat eine große Wohnung, vier Zimmer, hell, luftig, gleich beim Park. In der Nacht hört man die Ilm plätschern. Wie früher, als ich klein war. In Weimar kann ich meinen Beruf genauso ausüben, und es redet niemand schlecht hinter meinem Rücken. Ich fang noch mal von vorn an. Kann sein, dass ich mir das nur einbild. Ist eine schöne Einbildung. Verboten? Nein. Ist erlaubt. Oder nicht?«
»Ja«, sagte Fischer.
»Ja. Und ich werd für mich bleiben. Das wird schwer am Anfang. Ich werds schaffen. Keine Männer, die mich bestimmen wollen, kein Getue mehr, wenn sie wieder keine Zeit haben. Niemand, der Fragen bloß stellt, weil er misstrauisch ist oder berechnend. Erst war ich in Trudering, dann in Ramersdorf, jetzt in Untergiesing, das reicht für diese Stadt.«
Fischer sagte: »Nehmen Sie das Grab Ihrer Tochter mit?«
Als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen, zuckte ihr Kopf zur Seite. Sie riss den Mund auf und brachte sekundenlang keinen Ton heraus. Dann stieß sie wütend zwei Worte aus.
»Sie Lump!«
Den Ausdruck hatte Fischer lange nicht mehr gehört. Beinah wäre ihm ein Lächeln entglitten. »Ich bin noch nie einer Mutter begegnet«, sagte er, »die eine Grabstätte für ihr vermisstes Kind kauft, ohne dass dessen Leiche gefunden wurde.«
»Dann bin ich die erste.«
»Sie sind die erste.«
Sie keuchte und hatte den Mund immer noch halb geöffnet.
»Was geschieht mit dem Grab, wenn Sie aus München wegziehen?«
Nach einer Weile stand sie wie benommen auf und blickte zu Boden. Dann streckte sie die Finger beider Hände aus und atmete wieder ruhig. Ihre Stimme verriet nicht den leisesten Vorwurf oder Zorn. »Das Grab bleibt. Zehn Jahre. Danach werd ich den Vertrag verlängern. Scarlett ist in München geboren, und hier soll sie auch ihre letzte Ruhe finden. Ihr Grab ist in der Nähe des schönen Weihers. Da steht ein kleines Holzkreuz, und ich hab einen Rosenstrauch gepflanzt, der blüht jedes Jahr. Ich denk an meine tote Tochter, jeden Tag in meinem Leben.« Sie fröstelte. »Jetzt muss ich mich um die kümmern, die noch leben, auch wenn sie krank sind.«
»Der Zeuge, der Ihre Tochter gesehen haben will, behauptet, das Mädchen habe eine Narbe auf der linken Wange gehabt und eine Kette mit schwarzen Steinen getragen, wie Ihre Scarlett.«
Während sie die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug vom Tisch nahm und in einer ungelenken Bewegung in die Kitteltasche steckte, legte Michaela Peters den Kopf schief, als horche sie Fischers Worten nach.
Sie sah zum Fenster, zögerte, schloss es und drehte sich um. »So genau hat der Zeuge hingeschaut?«
»Ja.«
»Wieso verraten Sie
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