Totsein verjaehrt nicht
mir den Namen nicht?«
»Scarlett hatte eine Narbe auf der Wange, und ein Freund hat ihr eine Kette mit schwarzen Steinen geschenkt.«
»Kann schon sein.«
»Wissen Sie noch, wie sie sich im Gesicht verletzt hat?«
»Beim Spielen.« Zum ersten Mal zwang sich Michaela Peters dazu, Fischer fest in die Augen zu sehen. Es fiel ihr schwer. Ihre dunkelblauen schmalen Augen waren starr undgroß. Jedes Mal nach dem Sprechen ließ sie vor Anspannung den Mund ein Stück offen.
»Sie ist vom Rad gestürzt«, sagte Fischer.
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Oder beim Fußballspielen.«
Dem Kommissar kam es vor, als würde sie die Luft anhalten.
»Haben Sie Ihre Tochter geschlagen, Frau Peters?«
Sie gab keine Antwort.
»Sie haben Ihre Tochter geschlagen und verletzt.« Fischer machte zwei Schritte auf sie zu. Sie ruckte mit dem Kopf.
»Stehen bleiben!« Sie winkelte den rechten Arm an, presste ihn gegen den Körper und ballte die Faust, als richte sie eine Waffe auf Fischer. »Der Herr Rost hat mich gewarnt, dass Sie ein unangenehmer Mensch sind. Wenn Sie noch näher kommen, schlag ich zu.«
»Geben Sie mir noch zwei Antworten, Frau Peters. Möchten Sie, dass die Polizei die Suche nach der Schülerin aufnimmt, die der Zeuge am Marienplatz gesehen haben will? Und: Begleiten Sie mich zum Grab, das Sie für Ihre Tochter angelegt haben?«
»Das werd ich niemals tun«, sagte sie. Mit einer Kopfbewegung scheuchte sie Fischer aus dem Weg und huschte an ihm vorbei.
Wie vorhin am Fenster zögerte sie, bevor sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Offensichtlich wollte sie noch etwas sagen und drehte ein wenig den Kopf. Dann öffnete sie ohne ein weiteres Wort die Tür und trat auf den Flur hinaus.
Eine Zeit lang stand Fischer da, die Hände in den Manteltaschen, und roch kalten Zigarettenrauch und süßliches Parfüm. Er hörte die Geräusche des Krankenhauses und versuchteden Sätzen von Michaela Peters ein Empfinden abzugewinnen. Je länger er nachdachte, desto weniger empfand er. Ebenso gut hätte er in Schnee graben können, wie ein Lawinenhund auf der Suche nach einem Verschütteten, der nicht existierte.
Der Verschüttete war er doch selber.
Der Junge, stellte er sich vor, während er weiter in der offenen Tür stand, ging in der Mitte der Straße und neben ihm ein Mädchen, das ein Jahr jünger war als er, seine Schulwegbegleiterin, seine Freundin, die er vor seinen Freunden aber nicht so nannte, damit sie ihn nicht aufzogen. Marcel wollte nur in ihrer Nähe sein, weil die Nähe der anderen ihm fremd blieb und er sich vorkam wie einer, der von ihnen nicht gemeint war, von ihren Worten, Gesten, Blicken.
Niemand durfte wissen, dass Fischer jetzt hier war und an solche Dinge dachte. Was er tat, war unterirdisch. Keiner seiner Kollegen würde Verständnis für sein Verhalten aufbringen, nicht einmal angesichts seiner persönlichen Not. Obwohl er an den direkten Ermittlungen im Fall der Taxitäter nicht teilnahm, hätte er längst im Dezernat sein müssen. Stattdessen führte er juristisch haltlose Befragungen durch. Stattdessen tauchte er in Vorstellungen ab.
Er sah, wie Marcel ungeduldig jeden Morgen in der Lukasstraße wartet, wie er neben Scarlett hergeht und wenig spricht, denn das Sprechen ist nicht seine Stärke. Das mag sie an ihm: dass er still sein kann und sie nicht ausfragt. Wenn die Worte ihrer Mutter wieder in ihr schlagen wie schreckliche Glocken, wenn die Stimme des Freundes ihrer Mutter in ihrem Kopf widerhallt wie ein böses Echo, wenn sie am liebsten auf der Straße weinen und schreien würde, wenn sie vor Traurigkeit stolpert und den ganzen Weg bis zur Schule schnieft und ihre Schulter schief hält.
Und als Scarlett plötzlich verschwunden ist, sucht Marcel bloß nach außen hin nach ihr. In Wahrheit geht er weiter neben ihr her, legt den Arm um ihre Schulter, wenn sie sich an einer verschwiegenen Straßenecke an ihn lehnt, einfach so. In seinem Zimmer erzählt er ihr von seinen Plänen als Filmemacher. Sie hört ihm zu, wie immer, sie ist da, wie immer, er hört ihre leise Stimme, die sagt: Du musst mir versprechen, dass du immer auf mich wartest, auf dem Schulweg und im richtigen Leben. Und er verspricht es ihr, und ihre Stimme sagt: Ich warte auch auf dich.
So vergingen die Jahre.
Fischer war überzeugt, dass Marcel nie ein anderes Mädchen zur Schule begleitet hatte, auch als er schon lang nicht mehr auf die nahe Grundschule, sondern in die Realschule ging, zu der er zwei
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