Totsein verjaehrt nicht
Stationen mit der U-Bahn fahren musste. Für Marcel wohnte Scarlett noch immer in der Lukasstraße, zwei Häuser weiter, und er wartete auf sie, und sie wartete auf ihn, wenn er sich ausnahmsweise verspätete.
Und dann, am 2. Februar, Faschingssamstag mitten in der Stadt, endete sein Warten. Vollkommen überraschend. Und irgendwie auch logisch. Denn es musste so kommen. Eines Tages, das wusste Marcel seit jenem 8. April, würde Scarlett aus der verkehrten Wirklichkeit in die richtige zurückkehren, und er würde sie sofort erkennen. Sie würde seine Kette tragen und ihm winken. Und genau das hatte sie getan: Sie trug seine Kette und winkte ihm, wenn auch nicht mit der Hand, sondern mit den Augen. Und wäre er nicht zu feige gewesen, den Polizisten einfach stehen zu lassen, dann wäre er zu ihr gelaufen und hätte ihr den Arm um die Schulter gelegt, und Scarlett hätte sich an ihn geschmiegt, wie damals.
Weil alles anders kam, schrieb er einen Brief.
Fischer dachte: Er hat sich verschaut, wie Verliebte sich ineinander verschauen und vor Übermut ihr Schauen tauschenmöchten. Eine Narbe und eine Kette sind kein Beweis. Nicht einmal das Winken von Augen.
Das Urteil gegen Jockel Krumbholz war rechtskräftig, es würde keine neuen Ermittlungen geben. Scarlett Peters war einem Verbrechen zum Opfer gefallen, ihr Mörder büßte in der Psychiatrie seine Strafe ab. Solange die Leiche nicht gefunden wurde, blieb jeder Versuch, ein Wiederaufnahmeverfahren anzustrengen, aussichtslos.
Trotzdem lösten die Aussagen von Michaela Peters und Hanno Rost bei Fischer ein solches Unbehagen aus, dass sein Magen zu schmerzen anfing. Beinahe hätte er einen der vorüberhastenden Ärzte angesprochen.
Als er endlich aus der Tür trat, roch er das Parfüm einer Frau, und er brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, wer vor ihm stand. Er hatte sie nicht kommen hören. Verwirrt kniff er die Augen zusammen und ballte die Fäuste in den Taschen.
»Ich hab dich gesucht«, sagte Oberkommissarin Liz Sinkel.
Fischer nickte, als hätte er damit gerechnet.
»Ich hab im Krankenhaus angerufen, weil ich schon vermutet hab, dass du hier bist.«
Fischer griff nach ihrer Hand, wie er es oft tat, auch während der Arbeit, einfach so, weil es notwendig war.
»Du bist ganz kalt«, sagte Liz.
»Nein«, sagte Fischer.
»Komm mit, wir trinken jetzt Kaffee.« Sie zog an seinem Arm. »Warum bist du eigentlich nicht bei Ann-Kristin?«
4
»Und kehre nicht auf halbem Weg um«
»Ich hab sie gebeten, wachsam zu sein«, sagte Polonius Fischer. »Das weißt du ja, immer wieder hab ich sie gebeten, jede Nacht, seit dreizehn Jahren. Was man so sagt, wenn man sich sorgt. Die Zentrale kann die Taxis über GPS orten, in manchen Wagen sind Videokameras installiert. Der Sprechfunk läuft die ganze Zeit, die Kollegen haben die Möglichkeit, gegenseitig aufeinander aufzupassen.«
Alles, was er ihr erzählte, kannte Liz schon, und sie war nicht gekommen, um ihm lange zuzuhören. Aber noch hatte sie keine Eile, der Kaffee und das Butterhörnchen schmeckten ihr, und es saßen nicht zu viele Patienten um sie herum. In der Cafeteria des Klinikums Großhadern waren um diese Zeit nur zwei Tische besetzt. Die Besucher machten einen munteren, fast ausgelassenen Eindruck auf sie.
Fischer trank einen Schluck Kaffee, legte die eine Hand flach auf seine Brust, über die Krawatte, die andere auf den Tisch, als leiste er einen Schwur auf eine unsichtbare Bibel. An einer Antwort auf die Frage, weshalb Liz ihn gesucht hatte, schien er nicht im Geringsten interessiert zu sein.
Die Videobilder waren unbrauchbar, viel gesprochen hatten die Täter nicht. In der Siebenbrunner Straße hielten sie das Taxi an, zerrten Ann-Kristin aus dem Auto, nahmen das Geld aus dem Kofferraum, knapp zweitausend Euro, und verschwanden mit ihrer Geisel, vermutlich im eigenen Wagen. Das war in der Nacht zum Sonntag passiert, zwischen halb drei und drei.
Aufgefunden wurde Ann-Kristin in einem Abbruchhaus in der Wunderhornstraße in der Menterschwaige, zehn Minuten Fahrzeit vom Ort des Überfalls entfernt. Ein älterer Mann, ein Nachbar, ging wie jeden Morgen mit seinem Hund spazieren und sah eine Gestalt hinter einem der verdreckten Fenster. Die Täter hatten Ann-Kristin gefesselt, aber sie schaffte es, aufzustehen und sich bemerkbar zu machen. Sie hatten ihr den Mund verklebt und sie mit einem Abschleppseil an einen Heizkörper gebunden, ihre Hände mit Klebeband fixiert. Sie war nicht sexuell
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