Totsein verjaehrt nicht
sollte, über dieStraße und auf einen riesigen Kasten zu. Der Kasten war der Bus. Seite um Seite hatte Hochfellner vollgekritzelt. Die Bilder sahen aus wie schlechte Comicstrips. Über dem Geschehen ein schwarzer Himmel. Immer wieder eine durch die Luft fliegende Gestalt mit ausgebreiteten Armen und flammenden Haaren.
»Das ist die Karen«, sagte Hochfellner viele Male. »Die ist da über die Straße geflogen, habs mit ansehen müssen. Die kam von links. Nicht von rechts aus dem toten Winkel wie die Fahrradfahrer. Da pass ich auf, da ist noch nie was passiert. Mit einem Radler hats noch nie einen Unfall gegeben. Die Karina kam von links. Wieso? Hab die nicht gesehen. In der nächsten Sekunde ist sie schon geflogen. Vorher hab ich noch den Knacks gehört. Wie sie gegen das Blech gekracht ist. War nicht laut, nur so ein Knacksen. Dann war der kleine Körper in der Luft. Hoch in der Luft. Vor meinen Augen. Hab doch gleich gebremst. Nein, nicht gleich. Wenn ich gleich gebremst hätt, wär sie noch am Leben jetzt. Sie war zu schnell zum Bremsen. So ein kleines Mädchen.«
Am Heiligen Abend nahm Hochfellner am Gottesdienst im Liebfrauendom teil. Er stand am Gitter, nahe beim Eingang, damit er flüchten konnte, falls ihn jemand erkannte. Doch er blieb bis zum Ende, die Hände zu Fäusten geballt. Er war nicht fähig, die Hände zu falten. Er sprach kein Gebet, er hatte die Texte alle vergessen. Er ging selten in die Kirche, wenn, dann um eine Kerze für seinen Sohn anzuzünden, in alter Gewohnheit, weil Elvira das früher oft getan hatte, obwohl sie, wie er, kein religiöser Mensch war. Auf dem Domplatz hatte er dann weinen müssen, sagte er, aber er ging weiter bis zum Marienplatz und zwischen den beleuchteten, verlassenen Buden des Weihnachtsmarktes hindurch über den Viktualienmarkt. Und als er am Isartor ankam, bemerkte er, dass er immer noch weinte.
Fischer sagte: »Hätten Sie an Heiligabend nicht zu Ihrer Exfrau und Ihrem Sohn gehen können?«
Er rieb die Fäuste an seinen Wangen. »Hätt ich nicht. Elvira hat mich eingeladen, ihr neuer Freund war auch da. Den wollt ich nicht sehen. Und ich wollt auch die Elvira nicht sehen. Wollt niemand sehen.«
»Ihr Sohn hätte sich bestimmt gefreut.«
»Kann schon sein. Ich muss Ihnen noch erzählen, dass da ein Stau war vor der Anzinger Straße …«
Er hatte es schon erzählt. Fischer hörte ihm weiter zu. Hochfellner fing von vorn an und blätterte in der aufgeschlagenen Mappe mit den Zeichnungen. Immer wenn sein Redefluss stockte oder er auf dem Sofapolster vor und zurück rutschte und sich mit den Fäusten abstützte, warf er einen Blick zum Fernseher, der ohne Ton lief und Ausschnitte aus internationalen Fußball-Ligen zeigte.
Schon an der Tür, bei der Begrüßung, hatte Fischer ihm den Grund seines Besuchs genannt und danach, im Wohnzimmer, den Namen Scarlett Peters erwähnt. Doch Hochfellner hatte, außer mit einem schnellen Nicken, nicht weiter darauf reagiert.
Nach ungefähr eineinhalb Stunden, nachdem er die Geschichte des tödlichen Unfalls wie ein verwirrendes Mantra wiederholt hatte, beugte er sich abrupt nach vorn, klemmte die Fäuste zwischen die Knie und verstummte eine Zeit lang.
»Jetzt hab ich ganz Ihren Namen vergessen«, sagte er, ohne den Kommissar anzusehen. Er blickte auf den Tisch mit der vergilbten Decke, klappte die braune Mappe mit den Zeichnungen zu, strich mit dem Zeigefinger behutsam über den grün karierten Karton.
»Polonius Fischer.«
Hochfellner ließ sich Zeit, schaute, wie aus Versehen, zum Fernseher, senkte den Kopf. »Die kleine Scarlett. Den Namenhab ich mir gemerkt. Ja, sie hat mir gewinkt, das ist wahr.«
Als er Fischer durch den Flur geführt hatte, hatte dieser ihn daran erinnert.
»Sie hat mir fast immer gewinkt, wenn ich vorbeigefahren bin. Sie war eine Winkerin. Sie hat auch Kollegen von mir gewinkt, das haben sie mir erzählt. Die kleine Scarlett. Sie muss so alt gewesen sein wie die kleine Karina. Acht oder neun. Dann war sie verschwunden. Dann hieß es, sie ist tot. Der behinderte Junge hat sie umgebracht. Ich erinner mich an die Berichte in den Zeitungen. Was ist mit ihr?«
Er sah Fischer aus verschatteten Augen an.
»Sie haben das Mädchen an dem Tag gesehen, an dem sie verschwunden ist. Haben Sie in ihrer Nähe noch jemand anderen gesehen? War sie allein unterwegs?«
»Allein unterwegs?« Hochfellner schüttelte sich wieder, als fröstele er. »Sie kam von der Schule. War allein, ja. Da waren sonst keine
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