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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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roten Pudelmütze sauste auf eine Frau zu, die sich zu ihm hinuntergebeugt hatte, und sprang ihr in die Arme, und sie wirbelten im Kreis herum.
    »Nie mehr loslassen«, rief er. »Nie mehr loslassen.«
    Fischer rang nach Luft.
     
    Als hätten seine Sätze von der ersten Minute nach dem Unfall an auf Fischer gewartet, hörte er nicht auf, von dem Mädchen zu erzählen.
    Das Mädchen hatte einen Namen – Karina –, aber Kurt Hochfellner verwechselte ihn immer wieder. Einmal sagte er Karin, einmal Karen, einmal Klara, einmal Clarissa. Jedes Mal, wenn er den Namen aussprach, kippte seine Stimme. Dann redete er schneller und wiederholte sich, blickte mit furchtdunklen Augen vom Sofa zu Polonius Fischer, presste die Fäuste an die Wangen und schüttelte sich wie jemand, der friert oder eine Erinnerung loswerden möchte.
    Aber, dachte Fischer nach einer Weile, dieser Mann würde seine Schreckensbilder niemals bewältigen, solange er sie weiter beschwor, jeden Tag für sich allein, und niemandes Hilfe annahm und in seiner Wohnung vor dem Fernseher blieb, abgelenkt von Quizshows und Fußballspielen, hinter vorgezogenen Vorhängen, in Trainingshose, T-Shirt und Morgenmantel, mit grauer Haut und verwilderten Gesten.
    Am Montag nach dem ersten Advent fuhr Hochfellner wie üblich den Bus der Linie 155 von Berg am Laim zum Ostbahnhof. Nach der S-Bahn-Unterführung in der Rosenheimer Straße hielt er an der Kreuzung Orleansstraße an einer roten Ampel. Es war zehn vor eins und der Bus voll besetzt, das Wetter klar, der Verkehr übersichtlich. Hochfellner schaute in den Rück- und Außenspiegel, lenkte den Bus nach rechts und gab Gas. Da tauchte das Mädchen auf.
    »Ich hab sie gesehen«, sagte Hochfellner. »Rote Mütze. Die Klara. Rote Mütze. Grüner Schulranzen. Alles gesehen. Sie ist weitergelaufen. Und ich bin über sie drübergefahren. Drübergebrettert …«
    Karina Brandt hatte die rote Fußgängerampel nicht beachtet. Sie musste sehr schnell gerannt sein, denn die Straße war breit, es wäre genügend Zeit gewesen, das Mädchen zu sehen. Dennoch bemerkte Hochfellner sie erst im letzten Moment, er hatte keine Möglichkeit zu bremsen. Karina starb vier Stunden später im Krankenhaus. Nach den Ermittlungen der Kripo traf den Busfahrer keine oder nur geringe Schuld. Zeugen sagten aus, die Achtjährige sei mit gesenktem Kopf und ohne auf den Verkehr zu achten, quer über die Straße gelaufen, direkt vor den Bus. Wohin sie wollte, blieb unklar. Ihre Eltern wohnten in der Gravelottestraße, die auf der linken Seite von der Orleansstraße abzweigte, so dass Karina die Straße nicht überqueren, sondern geradeaus weitergehen hätte müssen.
    »Ich kenn die Gravelottestraße«, sagte Hochfellner, »ich war da früher oft in einer Kneipe. Hab fränkischen Wein getrunken. In den Siebzigern. Da war noch was los in Haidhausen. Kneipen und Flohmärkte. Heut ist alles saniert und teuer.«
    Nach dem Unfall wurde Kurt Hochfellner psychologisch betreut. Bald wollte er niemanden mehr sehen. Er steckte das Telefon aus, weigerte sich, mit seinem Arbeitgeber zu sprechen, schrieb Postkarten an seine Exfrau und ihren gemeinsamen Sohn, die er nachts, damit niemand ihn sah oder ansprach, zum Briefkasten brachte. An seinen Nachbarn huschte er grußlos vorbei. In den Geschäften in der Kirchenstraße, wo er in der Nähe des Haidhauser Friedhofs wohnte, redete er wenig. Wenn er seine Zweizimmerwohnung verließ, schaltete er den Fernseher nicht aus und ließ das Licht an. Im Gegensatz zu der Zeit vor dem Unfall ging er in kein Gasthaus mehr. Er hörte auf, Alkohol zu trinken, und beschränkte sich auf Mineralwasser, Bionade und Kaffee. Zu Weihnachten kaufte er Geschenke für seinen Sohn, die er seiner Exfrau in einem Parkhaus in der Innenstadt übergab.
    »Die Elvira hat mich ausgefragt«, sagte Hochfellner, »die hat gedacht, ich dreh durch und bring mich um. Die hat keine Ahnung von mir, zum Umbringen bin ich viel zu feig. Ich will nur meine Ruh. Hat sie nicht verstanden, immer noch nicht. Der Marius schon. Der Marius hat ein Gespür für seinen Vater. Der fragt nicht viel, der redet nicht viel, der ist da und basta. So war der schon als kleines Kind. Das hat die Elvira lang nicht auf die Reihe gekriegt. Hat gedacht, mit dem Buben stimmt was nicht, weil der so still ist. Stilles Kind. Ganz still. Ich hab eine Mappe hier mit Zeichnungen …«
    Auf den krakeligen Bleistiftzeichnungen lief eine Figur mit einem Buckel, der den Schulranzen darstellen

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