Totsein verjaehrt nicht
fühlte und dass jedes mimische oder verbale Schauspiel auf die eine oder andere Weise Spuren bei ihm hinterließ.
Auf seine Art war er jedes Mal vollkommen anwesend, und er verstellte sich nicht. Anstatt einen Schritt zurückzutreten, betrat er die Nähe seines Gegenübers mit immer vernehmbareren Schritten – auch wenn er bloß dasaß, mit auf dem Tisch gefalteten Händen.
Wenn es sein musste, tat er Dinge, die manche seiner Kollegen für das Gegenteil von professioneller Distanz hielten, für das Gegenteil jeglicher polizeilicher Professionalität. Zum Beispiel seinen P-F-Raum mit dem Kruzifix an der Wand bei Bedarf in einen Beichtstuhl umzufunktionieren. Oder an einem Samstagmittag Spuren in einem Fall zu verfolgen, der längst abgeschlossen und bei dessen Ermittlungen er selbst auf rüde, unprofessionelle Art außer Gefecht gesetzt worden war.
In der Nähe der Rathausgalerie wartete er zwischen elf und zwölf auf Marcel Thalheim, bevor er eine weitere Stunde damit verbrachte, jungen Frauen ins Gesicht zu starren und auf dem Marienplatz zwischen Rathaus, Kaufhof und dem alten Rathausturm hin und her zu laufen, an der Mariensäule und dem Fischerbrunnen Touristen und Einheimische zu beobachten und unentwegt Ausschau nach einem etwa fünfzehnjährigen Mädchen mit einer Narbe auf der linken Wange zu halten.
Fast immer bei Mordermittlungen überwachten sie, falls die Tatzeit halbwegs feststand, auf diese Weise den Tatort. Manche Menschen folgten zwanghaft bestimmten Regeln, auch Mörder. Sie benutzten dieselben Wege, sie verhielten sich nach einem nachvollziehbaren Muster. Manchmal stießen die Ermittler so auf neue Zeugen, auf entscheidende Hinweise, die sie bisher übersehen hatten.
Nach zwei Stunden ging er die Treppe ins U- und S-Bahn-Geschoss hinunter. Er drängte sich durchs Gewühl, versuchtesinnlos, sich Gesichter einzuprägen. An einem Kiosk holte er sich einen Kaffee im Pappbecher und verbrannte sich fast die Zunge. Er sah eine alte Frau in einem zerknitterten Popelinemantel, die aus einem Mülleimer halb volle Flaschen herausfischte und in eine Plastiktüte steckte.
Er gab einem neben ihm am Stehtisch Bier trinkenden Mann recht, dessen Ausführungen über die Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland neue Maßstäbe in Sachen Hirnrissigkeit setzten.
Er warf den halb vollen Kaffeebecher in den Abfall und eilte durch den Strom der gehetzten Samstagsmenschen zurück ans Tageslicht.
Es war ein grauer Tag, aber es regnete nicht. Der Wind hatte nachgelassen, und der blaue Anorak, den er seit Jahren nicht mehr angehabt hatte, wärmte gut.
Nach einem letzten Blick zum Marienplatz öffnete er die Tür eines vor dem Kaufhaus Beck geparkten Taxis. Im nächsten Moment schlug er die Tür wieder zu. Die Vorstellung, in einem Taxi zu sitzen, erschreckte ihn maßlos. Dass er überhaupt daran gedacht hatte, konnte er nicht begreifen. Ein beigefarbenes Taxi mit einem roten Werbestreifen. Ein gewöhnliches Taxi.
Er hielt seinen Hut fest, während er unter dem Rathausturm hindurchrannte, Richtung Tal, er wusste nicht, in welche Richtung. Er rannte zwischen Hunderten von Fußgängern, er umkurvte sie, er rempelte niemanden an. Dann lief er quer über die Straße zur Kreuzung am Isartor.
Außer Atem blieb er an der roten Ampel stehen, umringt von verwunderten Gesichtern. Taxis rasten vorüber. Es kam ihm vor, als wären nur Taxis, keine anderen Fahrzeuge unterwegs, und jedes einzelne verlangsamte vor ihm das Tempo. Unwillkürlich beugte er sich hinunter, um zu versuchen, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Sie fuhren weiter, und erstand immer noch da und versperrte den Passanten, die bei Grün über die Straße gehen wollten, den Weg. Fröstelnd und verwirrt folgte er ihnen, taumelte hinter ihnen her bis zur nächsten Ampel. Dort sah er auf der anderen Seite ein S-Bahn-Schild. Und wieder war es längst grün, als er sich endlich mitten im Pulk in Bewegung setzte.
Vor den Rolltreppen ins Tiefgeschoss roch es nach Kaffee. Fischer blieb stehen und sog den Duft ein. Er wusste nicht, woher er kam, aber dieser Duft, der gewöhnlich war wie ein Taxi auf der Straße, erinnerte ihn an einen gewöhnlichen Alltag, an dem er seiner Arbeit nachging, so wie Ann-Kristin der ihren, und an dem er ihren Anruf erwartete, der dann auch erfolgte, an jedem einzelnen der gewöhnlichen Alltage.
»Nie mehr loslassen«, rief ein Junge hinter ihm. »Nie mehr loslassen.«
Fischer drehte sich um. Ein kleiner Junge mit einer
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