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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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was ich tat, nachdem ich den Habit abgelegt und den Ring zurückgelassen hatte? Ich fuhr an die Nordsee. Dahin, wo wir manchmal sind im Sommer. Ich war da schon als Kind mit meinen Eltern und hatte auf einmal große Erinnerungen. Ich sah meine Mutter, wie sie Sand nach meinem Vater warf. Ich schmeckte das Steckerleis wieder. Und die Sonne schien. Und überall waren Stimmen. Und es war alles ein einziges Am-Leben-Sein. So fing meine Rückkehr an. Das habe ich dir nie erzählt. Ich wollte nicht, dass du mir Fragen stellst. Stell mir jetzt eine Frage, jetzt, jetzt …«
    Er bildete sich ein, ihre Lippen hätten sich bewegt. Er war sich fast sicher. Er nahm den Blick nicht von ihr.
    »Eines frühen Morgens beim Blick aufs stille Watt wurde mir klar, wohin ich gehöre. Noch am selben Tag rief ich im Präsidium an und erkundigte mich nach den Chancen, in den gehobenen Dienst aufzusteigen. Und so sitze ich vor dir, dein Kriminalhauptkommissar, A12, Morddezernat.«
    Sie schläft, dachte er, sie schläft und ist am Leben.
    Dann erhob er sich und schwankte. Und er wusste nicht, wohin mit seinem Schauen. Sie schläft, dachte er wieder, hoffentlich habe ich sie nicht gestört …
     
    Mit halben Schritten ging Fischer durch die Flure, die Hände in den Anoraktaschen, mit einem Ausdruck von Ohnmacht. Besucher kamen ihm entgegen, Familien mit Kindern,suchende Paare, Patienten in Morgenmänteln und mit Infusionswagen. Wie selbstverständlich wichen sie ihm aus, nicht weil er es nicht tun wollte, sondern weil er zu langsam reagierte. Er schlurfte über die Treppen, keuchte wie in einem gehässigen Wind. Und als ihm vor der Tür tatsächlich eine eisige Böe entgegenschlug, hob er den Kopf, hielt seinen Hut fest und beschleunigte wie zum Trotz seine Schritte.
    Auf dem Parkplatz auf der anderen Seite der Zufahrtsstraße senkte er den Kopf, nahm den Hut ab und faltete wieder die Hände vor dem Bauch.
    Leute, die aus ihren Autos stiegen, hörten dem vor sich hin murmelnden Mann aus der Entfernung zu.
    »Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe«, zitierte Fischer aus einem Psalm. »Denn von ihm kommt meine Hoffnung. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg, darum werde ich nicht wanken. Wie lange rennt ihr an gegen einen Einzigen, stürmt alle heran wie gegen eine fallende Wand, wie gegen eine Mauer, die einstürzt? Ja, sie planen, ihn von seiner Höhe zu stürzen, lügen ist ihre Lust. Sie segnen mit ihrem Mund, doch in ihren Herzen fluchen sie. Nur ein Hauch sind die Menschen, die Leute nur Lug und Trug. Auf der Waage schnellen sie empor, leichter als ein Hauch sind sie alle. Vertraut nicht auf Gewalt, verlasst euch nicht auf Raub. Wenn der Reichtum auch wächst, so verliert doch nicht euer Herz an ihn. Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg.«
    Nach einem Schweigen strich Fischer sich mit den Fingern durch die vom Wind zerzausten Haare und setzte den Hut auf. Dann ging er, ohne auf die Leute in seiner Nähe zu achten, gebückt und mit beschwerten Schritten zu seinem grünen Mitsubishi.

11
»Dann war der kleine Körper in der Luft«
    Verhöre, Vernehmungen, Gespräche.
    Unabhängig davon, welche Wörter sie für diesen Bereich der Kriminalistik benutzten, ihr Hauptziel, so hatten sie gelernt, sei nicht das Belasten oder Entlasten von Verdächtigen, sondern die Ermittlung der Wahrheit. Die Wahrheit würde die Tat des Beschuldigten in einem komplexeren Zusammenhang erscheinen lassen, sie würde ihn entweder freisprechen oder überführen. Nur dann, wenn die Kommissare bei ihrem taktischen Vorgehen diese grundlegende Erkenntnis beherzigten, würden ihnen emotionale Irrwege erspart bleiben, und sie gerieten nicht in die Gefahr, sich provozieren oder durch Vorurteile, Zorn oder Zuneigung leiten zu lassen.
    Wie manche seiner Kollegen haderte Polonius Fischer seit jeher mit dem Begriff der »professionellen Distanz«, der Vorstellung, man könnte einem Mörder, Totschläger oder einem vom Schmerz über das Verschwinden eines Angehörigen innerlich gekreuzigten Menschen mit »heißem Herzen und kühlem Kopf« gegenübersitzen, wie es in den polizeilichen Standardbüchern hieß.
    »Die eigene Person zurücknehmen« – diese Forderung zu erfüllen war ihm während seiner Zeit als Hauptkommissar bisher kein einziges Mal gelungen.
    Das bedeutete nicht, dass Fischer jeden Fall, jede Vernehmung, jede Vermissung persönlich nahm, sich von jeder Lüge herausgefordert

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