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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ganz warm ist. Die Toten frieren nicht mehr, die leben nah bei der Sonne, sie kriegen jeden Tag ein Essen gratis und ein Wasser dazu oder eine Himbeersaftschorle, und in der Nacht haben sie ganz leichte Träume. Da kommen keine dunklen Wesen aus den Wäldern, es gibt nämlich keine Wälder mehr, wenn man tot ist. Wenn man tot ist, ist auch die Angst tot, und deshalb fürcht ich mich nicht vor dem Totsein.
    Du musst keine Angst haben, ich sterb schon noch nicht. Solang du mir jeden Tag ein Essen bringst und mir Geschichten erzählst, bin ich fast so glücklich wie bei den Störchen in Hellabrunn.
    Sechs Jahre leb ich jetzt schon so, alle halten mich für tot. Und wenn ich achtzehn bin, besuch ich den Jockel und red mit ihm. Und vielleicht geh ich vorher zu seiner Mama und bitt sie, dass sie einen Schokokuchen backt, den bring ich dem Jockel mit, und den essen wir dann gemeinsam, und er hat bestimmt wieder einen verschmierten Mund.
    So wird das sein, ich hab gar keine Angst mehr. Ich freu mich schon, wenn du morgen wieder kommst. Vielleicht gehen wir bald mal zusammen spazieren. Jetzt kennt mich ja niemand mehr, ich bin ja sechs Jahre älter als damals, als ich für die anderen gestorben bin. Wir gehen an die Isar. Oder in den Tierpark, und ich schau mal, was der Waldrapp macht, ob der immer noch so einen roten langen Schnabel hat, oder ob der rote Schnabel auch grau wird wie das Gefieder der Vögel und die Haare der Menschen.
    Jetzt muss ich schlafen. Wenn du zufällig meinen Papa auf der Straße siehst, darfst du ihm winken. Aber du musst schnell winken, denn er hat einen Porsche.«
    Wieder raschelte etwas, wie Papier. Dann war es still hinter der grauen Decke.
     
    Marcel legte die Kamera auf den Stuhl, warf Fischer einen Blick zu, der so dunkel war wie der seiner Mutter, und schlug die Decke zurück.
    Unter der Sperrholzplatte kniete ein schmächtiges Mädchen mit blonden, fransigen Haaren, mit eingezogenen Schultern und einem Gesicht, das weiß war wie die Kellerwand. Tränen rannen aus ihren blauen Augen und über die tiefe Narbe auf ihrer linken Wange. Um den Hals trug sie eine Kette mit dunkelblauen runden Steinen.
    Sie weinte stumm, mit zusammengepressten Lippen. Neben ihr auf dem Steinboden lagen verstreut karierte Blätter.
    »Wer ist das, Marcel?«, sagte Linda Thalheim leise.
    Der Junge warf die Decke auf den Boden und verharrte, mit dem Rücken zu uns.
    »Sie sind Silke Heinrich«, sagte Fischer zu dem Mädchen.
    Ihr Nicken dauerte den Bruchteil einer Sekunde.
    »Bitte?«, sagte Linda. Sie wollte noch etwas sagen, zögerte und drehte sich um. »Ich koch jetzt Kaffee, und dann möcht ich informiert werden über alles, was ich noch nicht weiß.«
    Nachdem Linda die obere Kellertür und die Wohnungstür geschlossen hatte, schniefte das Mädchen laut, wischte sich über die Augen und krabbelte unter dem Tisch hervor.
    Als sie vor Fischer stand, hielt sie sich beide Hände vors Gesicht.
    »Wieso hab ich das getan?«, sagte sie hinter ihren Händen. »Wie kann man nur so dumm sein? Ich schäm mich so.« Sie nahm die Hände herunter.
    »Wer sind Sie eigentlich?«
    »Polonius Fischer. Ich war mit Marcel verabredet, aber er ist nicht gekommen.«
    »Er ist von der Polizei«, sagte Marcel.
    »Dann müssen Sie sofort meine Eltern anrufen«, sagte Silke.
    »Kannten Sie Scarlett Peters?«
    »Ich kenn die nicht. Er hat mich angequatscht am Marienplatz, wie schon mal, und er hat gesagt, er dreht einen Film über ein verschwundenes Mädchen. Und ich soll dieses Mädchen spielen, und er gibt mir hundert Euro dafür, ich müsst aber sofort mit ihm mitkommen. Erst hab ich gedacht, der ist bekifft, aber dann … aber dann …«
    »Dann fanden Sie die Idee interessant.«
    »Ich spiel in der Schule in der Theatergruppe«, sagte Silke, schniefte wieder und rieb sich übers Gesicht, über die Narbe. »Ich will Schauspielerin werden, eine echte Schauspielerin, nicht in einer Soap oder so Kram, ich will in richtigen Filmen mitspielen, wie die Alexandra Maria Lara. Die weiß genau, was sie spielen will und was nicht. Kennen Sie die?«
    »Nein.«
    »Und da hab ich gedacht, warum nicht? Ein verschwundenes Mädchen, das angeblich ermordet worden ist, das aber noch heimlich lebt, klingt interessant. Er hat gesagt, er hat schon einen Text geschrieben und den soll ich spielen. Dann hat sich rausgestellt, dass er bloß Stichpunkte hat und dass ich alles improvisieren muss.« Sie hob den Kopf. »Du hast mich ganz schön gelinkt,

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