Totsein verjaehrt nicht
dass es mir sehr leidtut, dass er wegen mir eingesperrt worden ist. Aber eigentlich ist das nicht meine Schuld.
Ich hab ihn nicht verurteilt, ich hab ihn nicht mal angezeigt, als er vor mir die Hose ausgezogen hat und mir sein ekeliges Ding gezeigt hat. Der weiß doch gar nicht, was mit ihm los ist, er macht einfach was und erschreckt die anderen Kinder. Dann lacht er sie aus und sich selber auch.
Vor dem Jockel hab ich nie Angst gehabt, ich bin gern mit ihm mitgegangen und hab den leckeren Schokokuchen von seiner Mama gegessen. Er hat sich immer ein riesiges Stück inden Mund gesteckt, dann war sein ganzer Mund verschmiert. Aber er hat bloß gelacht und ich auch, und dann haben wir Playstation gespielt, und er hat immer verloren. Das war ihm gleich. Ich wollt nicht, dass er wegen mir ins Gefängnis geht. Was hätt ich machen sollen? Ich werds ihm erklären, später mal, ganz bestimmt, versprochen, Jockel, das versprech ich dir. So war das alles …«
Hinter der herunterhängenden Wolldecke war das Rascheln von Papier zu hören, ein Schniefen, ein leises Schmatzen. Marcel setzte sich mit der Kamera auf den Klappstuhl.
»Marcel …«, sagte seine Mutter, und er machte »Psst«. Dann fing das Mädchen wieder an zu sprechen.
Fischer stand da, von einem Schrecken erfüllt, den er vor lauter Zuhören kaum begriff.
»Früher, als ich ein kleines Mädchen war, hab ich mich dauernd gefürchtet. Das weiß ich noch genau, aber ich weiß nicht mehr, wovor. Und ich glaub, das hab ich damals auch nicht gewusst. Aber gefürchtet hab ich mich, nicht nur in der Nacht, wenn ich im Bett gelegen bin und drüben meine Mutter gestöhnt und geschrien hat. Das war schlimm. Ich hab gedacht, gleich kommen die Nachbarn und schmeißen uns raus und ich muss in ein Heim. Weil jemand meine Mutter umgebracht hat. Ich hab immer Angst gehabt, dass sie so schreit, weil jemand sie erwürgen oder erschlagen will. Da waren so Geräusche, es hat gekracht und gescheppert. Am liebsten wär ich rübergelaufen und hätt an die Tür gepumpert. Hab mich nicht getraut. Das Schreien und das Wimmern hat dann auch aufgehört, und dann bin ich eingeschlafen.
Und im Traum hab ich mich weitergefürchtet. Da sind dunkle Wesen aus den Wäldern gekommen und haben mich verfolgt. Ich bin gerannt und gerannt, und oft bin ich hingefallen und konnt nicht mehr aufstehen. Ich konnt einfach nicht mehr aufstehen. Jedes Mal, wenn ich mich mit denHänden abgestützt hab und schon fast wieder gestanden bin, sind meine Beine abgeknickt wie Streichhölzer. Das war das Schlimmste. Die dunklen Wesen waren schon ganz nah, ganz nah waren die. Ich wollt schreien, und das hab ich nicht können. Da ist kein Laut aus meinem Mund rausgekommen. Ich hab auf der Straße gekniet, mit offenem Mund, und konnt mich nicht bewegen.
Dann bin ich aufgewacht, und mein Herz hat über mich rausgeschlagen, bis in den Flur raus und ins Zimmer meiner Mutter. Die hat nichts gehört.
Mein ganzer Körper war voller Schweiß, ich hab die Decke auf den Boden geworfen und bin aufgestanden. Ich musst ja ganz leise sein, damit niemand was merkt. Ich hab mich nicht getraut, das Fenster aufzumachen. Ich bin bloß dagestanden, in meinem Schlafkleidchen, und hab geschwitzt und gezittert und hab mein Herz pumpern hören. Und Angst hab ich gehabt, und immer Angst, die ist nicht weggegangen, die ist in mir dringeblieben wie eine Fledermaus, die ist in mir rumgeflattert, rauf und runter. Deswegen hab ich so gezittert, weil die Angst so geflattert hat in mir, die Fledermausangst.
Das hab ich nie wem erzählt, erst später meinem Freund. Der weiß jetzt alles von mir, und meine Mutter weiß gar nichts. Für sie hab ich sowieso nicht richtig existiert. Sie hat mich bloß angezogen und hat mir zu essen hingestellt und ist mit mir in den Tierpark gegangen, wenn ich lang genug an sie hingebenzt hab. Weil ich doch so gern im Vogelpark gewesen bin, bei den lustigen Waldrappen mit den langen roten Schnäbeln und den Störchen hoch oben unter dem Eisennetz und den Enten und Gänsen. Da hab ich immer ein Glück gespürt, da wär ich gern geblieben. Musst aber wieder zurück in die Lukasstraße. Da wollt ich nie hin. Deswegen bin ich auch weg und hab beschlossen, dass ich wegbleib und schau, was passiert und wie lang ich überleb.
Und wenn ich verhunger, dann werd ich nicht traurig sein, denn trauriger, als ich in der Lukasstraße gewesen bin, kann man nicht werden. Und wenn ich erfrier, weiß ich, dass es, wenn man tot ist,
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