Tränen aus Gold
Justin zu sich heran.
»Wir müssen gehen«, drängte er. »Hillert wird nicht ruhen, ehe er uns nicht gefaßt hat.«
»Aber wohin?« fragte Elise verzweifelt. »Zum Haus der von Reijns können wir nicht mehr, weil wir Nikolaus ganze Familie gefährden würden. Wird Hillert nicht alle Herbergen und Kneipen nach Fremden absuchen lassen?«
Da leuchteten Justins Augen auf. »Ich wüsste ein sicheres Versteck. Kommt, ich bringe Euch hin. Dort wird Euch niemand vermuten.«
Maxim war im Zweifel, ob er dem Jungen trauen sollte, doch kam er der Aufforderung nach.
Der Nebel verdichtete sich zusehends, als sie das Hafenviertel erreichten. In der nächtlichen Stille ächzten die unzähligen hohen Masten und die vom Eis umschlossenen Schiffsrümpfe. Vorsichtig schlichen die drei an den Pier, wobei sie ständig um sich blickten. Justin lief ihnen auf dem eisglatten Kai voran. Im Schutze der Dunkelheit kauerte er sich unter dem größten Schiff, das im Hafen lag, nieder und deutete mit breitem Grinsen auf den Namen. Es war Hillerts ›Grauer Falke‹.
22
Es war wie eine von der Wirklichkeit streng geschiedene Welt, unter der Zeit und den Elementen erstarrt, eine Welt, in der eisumhüllte Rahen und Mastbäume keine Ähnlichkeit mehr mit irdischen Gebilden aufwiesen, sondern gespenstisch wirkten, gleich sonderbaren Skulpturen, wo über gefrierende Gischt der Nordwind hinweggefegt war. Eine dünne Schneeschicht bedeckte das Deck des Viermasters, und darunter lag eine tückische Eisschicht. Hohe, unter den Planken fest verankerte Mäste stießen in den Nachthimmel und verloren sich mit ihren Spitzen in Schneegestöber und Finsternis. Lange, bärtige Eiszapfen hingen von Rahen, Spieren und Pardunen. Strich eine Brise über die Eiskristalle, dann entstand ein klirrendes Geräusch wie von eisigen Klauen eines über Deck schleichenden winterlichen Untiers. In diese unheimlichen Töne mischten sich ferne, ganz leise mahlende Geräusche vom Fluss her, wo offenes Wasser auf Eis traf.
Maxim schlich vorsichtig über das Deck, gefolgt von Elise, dahinter Justin. Der glatte Untergrund erforderte Wachsamkeit, da jeder Sturz die Gefahr einer Verletzung bedeutete. Eine leichte Brise strich übers Deck und würde sämtliche Spuren, die sie hinterließen, tilgen. Unter Deck nahm Maxim Elise an der Hand und geleitete sie durch die Dunkelheit. Die im Inneren herrschende Kälte machte es sehr unwahrscheinlich, daß man eine Wache an Bord zurückgelassen hatte.
So tasteten sie sich durch die Dunkelheit, bis sie abrupt stehen blieben, als Maxim mit dem Kopf gegen eine Laterne stieß. Er fluchte halblaut vor sich hin, hob die Laterne vom Deckenbalken und entzündete die Kerze. Das Flämmchen flackerte in der Zugluft, bis die Tür geschlossen wurde. Dann wuchs die Flamme empor und erhellte mit ihrem spärlichen Licht die Umgebung.
Maxim ging Elise nun mit erhobener Laterne voraus. An einer Tür zur Linken blieb er stehen, schob sie vorsichtig auf und betrat eine kleine Kombüse, von der aus man in die Kapitänskajüte gelangte. Sämtliche Küchenutensilien hingen an einer Stange über einem Tisch. Eine große, offene Herdstelle, aus drei Wänden und einem ziegelbedeckten Boden bestehend, lag am entgegengesetzten Ende des winzigen Raumes. Über verkohlten Holzresten hing ein Kessel. Oberhalb des Herdes konnte der Rauch durch ein Eisengitter abziehen, dessen Luke jetzt verschlossen war. In die Innenwand des Herdes war eine Eisentür eingelassen. An der dahinterliegenden Wand befand sich ebenfalls eine Tür.
Sie wandten sich der Hauptkabine zu, und Maxim öffnete die leicht quietschende Tür. Auch ohne Laterne fiel genug Licht von draußen herein, so daß man sehen konnte, daß sich niemand in dem kostbar ausgestatteten Raum befand. Damit kein Licht nach draußen dringen konnte, beeilten sich die zwei Männer, die schweren Samtdraperien zuzuziehen.
Fröstelnd blickte Elise um sich. Der Luxus der Kabine versprach kaum Behaglichkeit, da die Kälte tief ins Schiffsinnere eingedrungen war.
»Sieht aus, als hätte Hillert keine Angst vor Dieben«, bemerkte Justin lakonisch.
»Stimmt«, sagte darauf Maxim. »Und sollte es jemand wagen, dann würden die Bürger von Lübeck schnell der ›Gerechtigkeit‹ zum Siege verhelfen.«
»›Hängt den Schuft‹, würden sie rufen«, stieß Justin verächtlich hervor. »Wie gern würde ich diesen Ausruf hören und dabei Hillert am Mastbaum baumeln sehen.«
»Eines Tages wird er unter dem Beil des Henkers
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