Tränen aus Gold
unheimlicher Schauer. Ihr Entsetzen wuchs, als sie an der gegenüberliegenden Wand ihren Schatten sah, auf den sich von beiden Seiten zwei andere Schatten, groß und männlich, lautlos zubewegten.
Die Räume waren doch nicht verlassen!
Elise sprang vor und entzog sich dem Zugriff starker Arme, die sie zu packen versuchten. Sie vernahm ein dumpfes Geräusch, als die zwei Eindringlinge zusammenstießen – die Silhouetten waren also keine bloße Einbildung gewesen. Wo eben noch Elise gestanden hatte, rangen nun zwei massige Gestalten miteinander und stießen halblaute Verwünschungen aus.
»Verdammt, Fitch, meine Nase! Loslassen!«
»Sie entkommt uns! Fang sie ein!«
Der Größere setzte ihr nach, doch Elise sprang leichtfüßig wie ein aufgescheuchtes Reh davon – und prallte im nächsten Augenblick gegen eine birnenförmige Gestalt. Ebenso verdutzt wie sie stand der Mann schwankend da, während er versuchte, seine muskulösen Arme um ihre schlanke Gestalt zu schlingen. Das Häubchen wurde ihr vom Kopf gerissen, und schon spürte Elise die Falten seines groben Übergewandes auf ihrem Gesicht. Der Geruch von feuchter Wolle und gekochtem Fisch stieg ihr in die Nase. Die Arme, die sie umschlangen, nahmen ihr fast die Luft, dennoch gab sie den verzweifelten Kampf nicht auf. Was hatten diese Halunken mit ihr vor? Als sie zu einem Schlag ausholte, verfing sich ihre Hand in der Kette, und die Perlen kollerten zu Boden. Dennoch wehrte sie die schwielige Hand, die ihren Hilferuf zu ersticken drohte, mit einem kräftigen Biss ab, so daß der Mann vor Schmerzen aufstöhnte und seine Hand wegzog. Doch gerade als sie, nach Luft schnappend, losschreien wollte, wurde ihr ein geknotetes Tuch in den Mund geschoben.
Mit aller Kraft rammte sie ihren spitzen Absatz in den Rist des Mannes, der Schuhwerk aus weichem Leder trug. Im nächsten Augenblick stieß sie heftig gegen seinen vorstehenden Bauch, plötzlich war sie frei, doch bevor sie fliehen konnte, wurde sie von den Stoffmassen eines Vorhanges eingehüllt, den einer der Männer vom Fenster gerissen hatte. Das große Stück wurde so um sie gewickelt, daß sie von Kopf bis Fuß eingehüllt war. Verzweifelt bäumte sie sich auf. Ein Arm legte sich eng um ihren Hals und drückte das Tuch so fest an ihr Gesicht, daß sie fast erstickte. Je mehr sie sich wehrte, desto fester wurde die Umklammerung. Erst als sie sich beruhigte, ließ auch der Druck des Armes nach. Damit stand eines fest: Sie war den Entführern hilflos ausgeliefert.
»Menschenskind, Spence, wo steckst du?« rief der zuvor Fitch Genannte. »Wir müssen uns beeilen.«
Sie hörte hastige Schritte. »Kann den Umhang der Dame nicht finden.«
»Dann muß das reichen, was sie anhat. Wir müssen fort, ehe jemand kommt.«
Die dicke Kordel, die dazu gedient hatte, den Vorhang vor einem Fenster zurückzuraffen, wurde nun benutzt, um Elises Umhüllung festzubinden. Dann wurde sie hochgehoben und über eine breite Schulter gelegt. Geknebelt und gefesselt wie ein hilfloses Opferlamm, konnte Elise nur noch stöhnen und sich winden, als man sie hinaus auf die Loggia und anschließend über die Außentreppe hinunter in den Hof schleppte. Kaum hatten die beiden das Haus hinter sich gelassen, legten sie noch größere Eile an den Tag, was ihr fast den Atem raubte. Sie schlüpften durch die Hecke, die den Hof umgab, und dann wurde sie in weitem Bogen durch die Luft geschleudert und erstickte fast an dem Schrei, der sich ihr entringen wollte. Der Aufprall wurde gottlob durch Stroh gemildert. Es folgte ein Augenblick der Verwirrung, als ein Pferd aufgeschreckt wieherte und nervös zu scharren anfing, Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß man sie auf einen Karren geworfen hatte. Die gedämpfte Stimme des Kutschers beruhigte das Tier, während man Strohbündel auf Elise häufte. Der Karren ächzte unter dem Gewicht der zusteigenden Männer. Die beiden machten es sich auf dem Stroh bequem und drückten so schwer auf Elise, daß sie kaum atmen, geschweige denn sich rühren konnte. Das Pferd wurde angetrieben, und der Karren setzte sich in Bewegung. Elises Lebensgeister erreichten den Tiefpunkt, als ihr endgültig klar wurde, daß es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab.
Der Kutscher des Gefährtes fuhr in einem großen Bogen vor den Haupteingang des Herrensitzes. Obgleich Elise erst seit kurzem hier lebte, merkte sie es sofort, als die hölzernen Karrenräder über die Zufahrt rollten, da das schreckliche Geholper merklich
Weitere Kostenlose Bücher