Tränen aus Gold
Schurken zur Strecke! Diesmal entwischt er uns nicht!«
Elise versuchte verzweifelt, die Reiter auf sich aufmerksam zu machen. Ein plötzlicher Tritt von oben gebot ihr Einhalt. Tränen der Enttäuschung liefen ihr über die Wangen, als der Lärm der wilden Jagd verklang und wieder tiefe Stille eintrat. In ihrer großen Eile war den Verfolgern entgangen, daß unweit des Weges jemand dringend der Rettung harrte.
Behutsam lenkte der Kutscher das Gefährt wieder auf den Weg zurück und fuhr weiter, eine Ewigkeit, wie es Elise schien. Ihre Finger waren auf keinen Knoten gestoßen, der sich lockern ließ, und das Liegen auf dem holpernden Karren wurde nahezu unerträglich. Mit jeder Meile wuchsen ihre Erschöpfung und Mattigkeit. Sie versuchte eine vernünftige Begründung für ihre Situation zu finden. Aus welchem Grund hatten diese beiden Unholde sie entführt? Was war ihre Absicht? Und wer war der einsame Reiter? Gewiß war es Maxim Seymour gewesen, der sie auf der Straße überholt hatte. Und ihr Onkel und eine kleine Gruppe seiner Gäste hatten ihn dann verfolgt. Aber sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, welchen Nutzen Seymour aus ihrer Entführung ziehen sollte. Hätte er sie gefangen nehmen wollen, so hätte er sie gewiß daran gehindert, die Halle zu verlassen. Statt dessen hatte er sie kaum eines Blickes gewürdigt, als sie hinauslief. Nein, nicht dieser Abtrünnige und Verräter war es, der ihre Entführung befohlen hatte. Es gab andere, die viel mehr Grund hatten, sie in ihre Gewalt zu bekommen. Cassandra und ihre Söhne beispielsweise. Oder der edle Earl Reland, der auf Rache sann.
Die Möglichkeit, daß ihre zwei Entführer von Menschen angestiftet worden waren, die denselben Namen trugen wie sie, verbesserte Elises Lage nicht. Geriet sie wieder in die Gewalt ihrer Tante und Vettern, dann würden sie ihre Widerstandskraft brechen.
Schon als Kind hatte Elise viel von den Ränken ihrer Tante Cassandra munkeln gehört, meist von Bediensteten, die dieses rachsüchtige Frauenzimmer verabscheuten. Wollte man diesen Gerüchten Glauben schenken, so war Cassandra schon zu Lebzeiten Bardolfs in seinen Bruder Ramsey verliebt und hatte dessen schöne, junge Gemahlin mit dem kastanienbraunen Haar gehasst. Für sie war die schöne Deirdre nichts weiter als ein namenloses Findelkind, für das Ramsey nur Mitleid empfinden konnte. Ihre Eifersucht und ihr Hass wurden noch weiter angestachelt, als die junge Frau einer Tochter das Leben schenkte. Cassandra, die sich strikt weigerte, das Mädchen als Familienmitglied anzuerkennen, hatte kühn behauptet, Elise sei keine Radborne, sondern wie ihre Mutter nur Nachkomme eines fahrenden Sängers. Und dann war jener Unglückstag gekommen, an dem Deirdre, kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes, einer unbekannten Krankheit erlag. Ramsey, der den Verlust seiner Frau tief betrauerte, ließ fortan seine Liebe uneingeschränkt der kleinen Elise zuteil werden, wie seine Schwägerin enttäuscht und verbittert feststellen mußte.
Im Laufe der Jahre hatte die immer misslichere Finanzlage Cassandras Ramsey große Sorgen bereitet, denn er wußte, daß es im Falle seines Todes um die Zukunft seiner Tochter schlecht bestellt war, falls es ihm nicht gelänge, Elises Vermögen dem Zugriff Cassandras zu entziehen. Zu diesem Zweck richtete Ramsey für Elise Konten bei Bankleuten seines Vertrauens ein. Gerüchten zufolge hatte er in jüngster Zeit viel Besitz veräußert und war häufig in geheimer Mission zu den Stilliards unterwegs gewesen. Diese Gerüchte hatten bei den Radbornes für Unruhe gesorgt. Warum hatte er zu nächtlicher Stunde große Truhen aus seinem Haus geschafft? Dies wußten Cassandra und ihre drei jüngeren Söhne von einem Bediensteten Ramseys ; sie hatten ihm das Geständnis unter der Folter abgepresst und hielten es daher für lautere Wahrheit.
Elise verzog das Gesicht, als der Karren um eine Kurve holperte und ihre Ferse schmerzhaft über ein rohes Brett schürfte. Nun, von ihrer Familie hatte sie keine bessere Behandlung zu erwarten. Im Gegenteil: Die Radbornes scheuten vor nichts zurück, wenn es ihren Zwecken diente. Vor allem Cassandras unstillbare Habgier flößte Elise Angst ein. Nach Ramseys Entführung waren Cassandra und ihre Söhne auf dem Sitz der Radbornes aufgetaucht, nicht etwa, um seine Tochter zu trösten; nein, sie behaupteten, Ramsey sei tot und seine Ländereien und das versteckte Vermögen könnten ohne ausdrückliche Billigung der Königin
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