Tränen aus Gold
nicht in weibliche Hände übergehen. Der gesamte Besitz sei vielmehr rechtmäßiges Eigentum der Söhne Bardolf Radbornes, des älteren Bruders Ramseys, der den Titel geerbt hatte. Elise hatte sich geweigert, ihrer Tante irgendwelche Zugeständnisse zu machen, was diese so sehr erboste, daß sie zu harten Maßnahmen griff. Sie wurde noch wütender, als Quentin rettend eingriff, Elise auf seinen Landsitz schaffte und das Mädchen bei ihrem anschließenden Fluchtversuch ihrem Sohn Forsworth einen Schlag auf den Kopf versetzte.
Und jetzt werde ich wieder auf einem Karren an irgendeinen unbekannten Ort geschafft und befinde mich in fremder Gewalt, dachte Elise verbittert. Sie war sicher, daß ihr nichts Gutes bevorstand, und lähmende Furcht befiel sie, als der Karren anhielt und die zwei Männer abstiegen.
Einer der Männer sprach in gedämpftem Ton mit dem Kutscher, während der andere die Strohbündel entfernte und Elise im Licht einer Talgkerze ihre Entführer zum ersten Mal in Augenschein nehmen konnte. In den letzten Monaten hatte sie viele Bösewichte kennen gelernt, von der elegant gekleideten, scheinbar ewig jungen Cassandra und ihren Söhnen bis hin zu den elenden und verdorbenen Halsabschneidern des Londoner Freistattbezirkes. Zu ihrer Verwunderung mußte sie feststellen, daß ihre Entführer gar nicht so übel waren. Spence war groß und trotz seines hageren Aussehens kräftig, er hatte hellbraune Haare und gutmütige graue Augen; Fitch dagegen war kleiner, stämmiger und irgendwie birnenförmig. Seine Haare standen wirr ab, und seine blauen Augen zwinkerten fröhlich. Keinem der beiden hätte man die Missetat zugetraut, die sie begangen hatten.
In dem Kutscher erkannte Elise einen Mann, der in den Stallungen von Bradbury beschäftigt war. Sie schwor sich, daß seine Komplizenschaft bei der Entführung bekannt würde, sollte sie jemals wieder nach Bradbury zurückkehren. Enttäuscht mußte sie jetzt zusehen, wie er zungenschnalzend den Wägen wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.
Elise bemerkte nun, daß man sie an ein Flussufer gebracht hatte. Nirgends waren ein Boot, ein Fahrzeug oder Reittiere zu entdecken. Was wollten sie hier? Wollten die Männer sie ermorden? Oder sich an ihr vergehen? In ihrer lebhaften Phantasie verwandelten sich die Männer zu Ungeheuern. Als sie einen abgebrochenen Ast in der Gabelung eines nahen Baumes entdeckte, wich sie vorsichtig und unauffällig so weit zurück, daß sie das eine Ende fassen konnte. Kaum kam Fitch in ihre Nähe, holte sie mit aller Kraft aus und versetzte ihm einen schmerzhaften Hieb auf seinen Kopf. Mit einem lauten Aufschrei taumelte der Mann gegen seinen erschrockenen Gefährten. Diesen Moment der Verwirrung nutzte Elise und rannte mit hochgerafften Röcken verzweifelt auf den nahen Wald zu. Die beiden Entführer fassten sich und nahmen schreiend die Verfolgung auf. Spence hielt eine Laterne vor sich, denn es war stockfinster, und Elise hatte durch ihr schwarzes Kleid einen zusätzlichen Vorteil. Doch das Dunkel des Dickichts, in dem Elise sich bewegte, blieb von dem schwachen Lichtkreis unberührt. Sie war den beiden, die kopflos hinter ihr hertrampelten, ein ganzes Stück voraus, da sie mit ihren leichten Schuhen rasch vorankam. Wie eine kleine, flüchtige Elfe flog sie zwischen den Bäumen dahin. Hin und wieder warf sie einen Blick über die Schulter zurück. Ihr Herz pochte vor freudiger Erregung, als sie sah, wie die beiden Männer immer weiter zurückblieben – die Freiheit lag zum Greifen nahe.
Doch nachdem Elise eine Lichtung überquert hatte, sah sie plötzlich ihren Weg von einem Dickicht versperrt. Hastig suchte sie nach einer Möglichkeit, ins Unterholz einzudringen – ohne Erfolg. Nur nicht aufgeben! Vorsichtig trat sie den Rückzug an und überquerte die Lichtung in entgegengesetzter Richtung, um wieder zwischen den Bäumen zu verschwinden. Als der Laternenschein der Verfolger sich näherte, wich sie noch tiefer in den Wald zurück und verschmolz mit dem Dunkel der Nacht. Reglos, mit angehaltenem Atem verharrte sie, voller Angst, ihr aufgeregt pochendes Herz könnte sie verraten.
Die Männer, die nicht ahnten, wie nahe sie ihnen war, stürmten weiter, bis auch sie sich vor dem undurchdringlichen Dickicht geschlagen geben mußten. Sie trennten sich und liefen in entgegengesetzter Richtung weiter, um das Gehölz zu umgehen. Elise wagte sich vorsichtig aus dem Zuflucht bietenden Dunkel, raffte ihre Röcke und lief zu
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