Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
Vorhalle goss Sébastien einen Kaffee ein und reichte ihn seinem
Freund. Dann begaben sie sich mit den dampfenden Bechern nach draußen.
Mittlerweile hatte jeder von
ihnen jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Irritiert starrte Sébastien in den
rosafarbenen Himmel. Die aufgehende Sonne war gerade im Begriff den Horizont mit
ihrem Strahlenkranz in goldenes Licht zu tauchen.
Ein neuer Morgen begann und mit
ihm die Hoffnung, dass Amys Seele den Kampf in der Gezeitenreise gewann.
Der Dampf des Kaffees
verflüchtigte sich in der kalten Morgenluft und der Schrei eines Kolibris echote
von den Bergwänden wider und verband sich mit dem goldrosa Schleier des
aufgehenden Morgens über den nebelverhangenen Bergen. Tief atmete Michael die
kalte Luft ein, als schürte er damit in seinem Körper die Hoffnung.
Sébastien beobachtete ihn aus den
Augenwinkeln. Und er erkannte die Angst, Frustration und die tiefe Besorgnis in
Michaels Gesicht. Als er den Kaffeebecher an seine Lippen setzte, fühlte er, wie
Michaels Angst seinen Körper lähmte. Seine Lippen formten sich zu einem stummen
Gebet.
Er flehte alle Götter der vier
Gezeiten an, dass Amy es überstand. Obwohl es ihm wegen seiner ruppigen Art
niemand zutraute, ahnte er, dass Michael ohne Amy sein Leben als nutzlos
empfinden würde.
Nur durch ihre Liebe atmete sein
Körper und durchströmte das pulsierende Leben seine Adern. Sie schien alle seine
Emotionen zu verkörpern. All das, von dem er schon so lange geträumt hatte. Sie
war anscheinend zu seiner Festung geworden, inmitten eines Lebens, das vom
unermüdlichen Kampf gegen das Böse gezeichnet war.
Sébastien war von den Gedanken
Michaels zutiefst getroffen. Das, was er sich selber in seinen tiefsten Träumen
so sehr wünschte, sich aber für immer verbieten musste, hatte Michael in Amy
gefunden. Doch er gönnte es seinem Freund aus der Tiefe seines Herzens.
Nachdenklich hob er seinen Kopf und betrachtete den Himmel.
Die Morgenröte verblasste langsam
und machte den ersten zarten Sonnenstrahlen Platz. Müde strich er sich mit
beiden Händen über seine halblangen Haare und versuchte die Leere, die in seinem
Herzen war, auszublenden. Mitten in seine trüben Gedanken hinein, hörte er
unvermittelt die Stimme Miltons, der nach seinem Sohn rief.
»Michael. Amy kommt langsam zu
sich. Die Dogianer haben mir eine Vision gesandt. Sie hat die gefährliche Trance
überstanden und ist damit ab jetzt eine von uns. Eine reine Geisterkriegerin und
eine Hüterin der Lilien.«
Michael starrte seinen Vater
ungläubig an, als versuchte er die Worte mit seinem Verstand zu begreifen.
Sébastien reagierte schneller und eilte mit wenigen Schritten auf seinen Freund
zu.
»Michael, hast du nicht gehört?
Amy hat es überstanden. Ihre Seele hat dich nicht verlassen und ist nicht in den
Zwischenwelten für immer verloren. Sie lebt. Und diesmal für immer. Stark und
unverwundbar.«
Er legte seine Hand auf Michaels
Schulter und schüttelte ihn.
»Hey, Kumpel. Geh endlich zu ihr.
Sie wird dich jetzt mehr denn je brauchen. Von jetzt an muss sie lernen, in
unserer Welt zu überleben. Und nur du kannst ihr dabei helfen.«
Das schien seinem Freund endlich
aus seinem tranceähnlichen Zustand zu holen.
»Lieber Gott, ich danke dir«,
flüsterte Michael andächtig. Dann setzte er mit zitternden Händen seinen
Kaffeebecher auf dem Holztisch ab und stürmte an Sébastien und seinem Vater
vorbei.
****
Mit flatternden Lidern öffnete
Amy die Augen und versuchte sich durch den Nebel, der in ihrem Kopf herrschte,
zu orientieren. Er dauerte ein paar Sekunden. Dann hatten sich ihre Augen an die
Helligkeit im Zimmer gewöhnt. Mit leicht zitternden Händen strich sie suchend
über das weiße Laken. Mit schnellen Schritten glitt Michael an ihre Seite und
küsste sie zärtlich auf die Stirn.
»Willkommen in meiner Welt,
kleiner Schmetterling. Du hast es überstanden. Wie geht es dir?«, fragte er
immer noch besorgt.
Daraufhin verzog sie schmerzhaft
ihr Gesicht. »Mein Nacken tut weh und juckt ganz schrecklich«, flüsterte sie mit
schwacher Stimme.
Michael stützte sie und hob ihren
Oberkörper ein wenig an. Dann beugte sich dann nach hinten, um ihren Rücken zu
untersuchen. Kurz darauf lachte er erleichtert auf.
»Es ist alles in Ordnung, mein
Liebling. Das Jucken kommt von deinem Tapuat, das sich jetzt bildet. Deine Haut
muss sich noch daran gewöhnen und es richtig durchbluten.
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