Tränen des Mondes
mit ihrem Wissen anfangen würde, bliebe ganz allein ihr überlassen.
Und wie würden ihre Freunde in Sydney reagieren? Rosie würden sie mit offenen Armen aufnehmen. Doch Biddy? In Broome und im Norden war das überhaupt keine Frage. Doch in den Städten verhielt man sich gern politisch korrekt, solange man nicht selbst hautnah davon betroffen war. Lily war überzeugt, daß einige ihrer Freunde aus besseren Kreisen über ihre Familienverbindungen zu Aborigines entsetzt wären.
Am Spätnachmittag erreichte sie die Missionsstation in Beagle Bay und fand Bruder Wilhelm in ein kleines Gebetbuch vertieft auf einem Stuhl vor der Kirche sitzen.
»Guten Tag, da bin ich wieder, Bruder Wilhelm.«
»Hallo! Stimmt, Sie waren schon mal da. Die Frau mit den vielen Fragen.«
»Richtig.« Sie schwenkte eine Plastiktüte. »Das ist für Sie. Ich habe Ihnen aus dem Feinkostladen in Broome Schwarzbrot und Leberwurst mitgebracht.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten auf. »Das ist aber nett von Ihnen. Kommen Sie, wir trinken eine Tasse Tee.«
Sie gingen zur Küche hinüber, wo die junge schwarze Mutter Tassen und Teller aufdeckte, während Lily das Brot in Scheiben schnitt. Sie lächelten einander an, und Lily spürte mit einem Schlag, daß sie Aborigines jetzt mit ganz anderen Augen sah. Könnte sie überhaupt nach Sydney zurückfahren und Broome für immer hinter sich lassen, niemals einer Menschenseele von ihrer Familiengeschichte erzählen und einfach so tun, als gäbe es sie gar nicht?
Lily unterhielt sich mit Bruder Wilhelm über die alten Zeiten, sie sprach vor allem über das Leben Olivias und Tyndalls, nachdem sie geheiratet hatten, und vermied jeden Hinweis auf den Anteil von Aborigines an ihrer Familiengeschichte. Dann wechselte sie das Thema. »Ich habe die Tagebücher des Bischofs dem Historischen Museum übergeben. Man war dort sehr dankbar für diese wertvolle Bereicherung der Archive.«
Bruder Wilhelm freute sich über diese Nachricht. »Dann konnten wir uns also gegenseitig helfen, genauso soll es sein. Und welchen Anlaß hat Ihr Besuch dieses Mal? Noch mehr Fragen?«
»In mancher Hinsicht schon, Pater, aber ich glaube nicht, daß Sie mir darauf eine Antwort geben können. Die muß ich selbst finden. Tut mir leid, wenn das etwas mysteriös klingt.«
Bruder Wilhelm warf die Hände in die Luft und lachte. »In unserer Branche sind wir daran gewöhnt, mit Mysterien zu leben. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Eigentlich nicht. Ich würde nur gern einige Zeit alleine herumwandern. Hätten Sie etwas dagegen?«
»Natürlich nicht. Nur zu, gehen Sie ruhig und lassen Sie sich Zeit. Die Kirche ist offen, falls Sie beten möchten. Das könnte helfen.«
Er sah von der Veranda aus zu, wie Lily langsam durch die Mission zum Friedhof ging, beim Tor stehenblieb, dann eintrat und die Grabsteine einen nach dem anderen betrachtete. Geistesabwesend kratzte er sich am Kopf, nickte mehrmals bedächtig, als wäre ihm plötzlich ein Licht aufgegangen, und ging dann rasch zur Kirche hinüber, um für diese unerwartete Besucherin zu beten.
Der Grabstein lag in einer ziemlich vernachlässigten Ecke des Friedhofs, wo sich das Unkraut nach der letzten Regenzeit wuchernd ausgebreitet hatte. Der Stein trug keine Inschrift, sein einziger Schmuck war die Muschel mit dem eingeritzten Muster, genau wie in Olivias Tagebuch beschrieben.
Lily kniete sich hin und strich mit den Fingern behutsam über die Linien, die nach neun Jahrzehnten fast glattgeschliffen waren vom wirbelnden Staub in der Trockenzeit und den peitschenden Wassergüssen der Regenperioden. Doch das Muster war unverkennbar, die Symbole der Fahrt übers Meer und die Kreise, die Perlen darstellten. Lily hockte sich auf die Fersen und richtete ihren Blick fest auf den schlichten Grabstein, der ihr ohne Worte so viel zu sagen hatte.
Alle Erkenntnisse, die in den letzten, außergewöhnlichen Tagen auf sie eingeströmt waren, all die heftigen Gefühle brachen noch einmal über sie herein. Und mehr als an jedem anderen Tag dieser Woche wurde ihr deutlich, daß nun sie im Rampenlicht stand, im Mittelpunkt jenes Dramas, das Olivia in ihrem Tagebuch aufgezeichnet hatte. Hier am Grab, ganz nah bei dieser Frau, die in der Reihe ihrer Ahnen einen so fernen Platz einnahm, sah Lily den Zusammenhang des Ganzen glasklar vor sich, aber auch die aufwühlenden Folgen, die für sie möglicherweise damit verbunden wären. Dies war keine Geschichte mehr, die in irgendeinem Tagebuch
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