Tränen des Mondes
nur ein einziges Mal begegnet, in Perth, als ich noch sehr klein war. Meine Mutter war nach der Scheidung aus Amerika zurückgekehrt. Ich erinnere mich, wie ich mit Olivia im Garten umherlief. Und ich erinnere mich an den Anhänger. Sie muß ihn Georgie damals gegeben haben.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Rosie lebhaft zu. »Ja, sie war wunderbar zu mir. Obwohl ich damals auch noch sehr klein war. Meine Großmutter, die noch für Olivia und John gearbeitet hat, hat mich großgezogen. Olivia unterstützte mich finanziell, damit ich auf der Schule bleiben konnte, und richtete dann eine Stiftung ein, damit ich die Kunstakademie besuchen konnte. ›Tränen des Mondes‹ war eines der ersten Bilder, die ich auf der Akademie gemalt habe. Die Lehrer waren davon begeistert, was mir half, einen gesunden Stolz auf mein Erbe zu entwickeln. Mir wurde klar, daß ich es zum Thema meiner Bilder machen mußte. Die ›Tränen‹ liegen mir immer noch sehr am Herzen, aber das habe ich dir ja schon an jenem Abend erzählt.«
»Wie hast du das Haus bekommen? Hast du es gekauft?«
»Ja. Es wurde verkauft, als Olivia starb, wie auch das Haus in Perth. Deine Mutter hat es wohl zum Verkauf angeboten. Es hatte mehrere andere Besitzer, bevor ich es kaufen konnte … dank der Kunsthaie in New York.«
Sie erreichten die Veranda mit dem Blick über die Bucht. »Tolle Aussicht, was?«, sagte Rosie.
»Herrlich. Was für ein Anblick muß das gewesen sein, als die Logger mit geblähten Segeln in See stachen.« Sie standen schweigend da und ließen die Aussicht auf sich wirken, dann drehte sich Lily zu der attraktiven Frau an ihrer Seite um, die eine schicke Baumwollhose und dazu ein T-Shirt mit der Flagge der Aborigines und dem Aufdruck MABO trug, dem Namen Eddie Mabos, eines der Führer der Aborigine-Bewegung. »Du lebst in zwei Welten, Rosie. Wie bringst du das fertig?«
»Ganz einfach. Ich habe immer in zwei Welten gelebt, aber ich weiß, warum du fragst. Du willst wissen, ob du genauso wie ich in zwei Welten leben kannst. Also, das kannst nur du allein beantworten. Es hängt von dem Geist ab, der in dir steckt, vermute ich mal. Es ist ja schön und gut, wenn du dir eingestehst, daß es irgendwann in deinem Stammbaum auch ein paar Aborigines gegeben hat. Aber es ist noch einmal ganz etwas anderes, wenn du tief im Innersten wirklich weißt, daß du eine von uns bist.« Aus der Küche war ein Geräusch zu hören, und Rosie rief laut: »Hier draußen, Grandma. Komm raus und laß dir einen ganz besonderen Gast vorstellen.«
Lily drehte sich um und hielt überrascht die Luft an, als die alte Frau durch die Tür kam. Es war Biddy, die verschrumpelte Alte, die sie am Tag ihrer Ankunft am Strand beim Fischen getroffen hatte.
»Wieder genug zum Abendessen geangelt, Grandma?«
»Ja. Lief nicht schlecht.« Sie beäugte Lily ausgiebig. »Tag.«
»Hallo, Biddy«, sagte Lily leise.
Die alte Frau musterte sie scharf und strahlte sie dann mit einem zahnlückigen Lächeln an. »Wir haben drunten am Strand schon gequatscht. Hast meine Leine eingeholt.«
»Das stimmt«, erklärte Lily zu Rosie gewandt, »als ich hier ankam, bin ich ein bißchen herumgeschlendert, und da haben wir miteinander geplaudert.«
»Grandma Biddy ist da unten eine feste Einrichtung, wenn der Wasserstand günstig ist. Ganz schön rüstig für ihr Alter, sie geht auf die achtzig zu.« Rosie wandte sich zu Biddy, nahm sie an der Hand und zog sie näher zu Lily heran. »Das ist Lily. Sie ist die Urenkelin von John und Olivia. Mayas Enkelin.«
Die Augen der alten Frau begannen zu funkeln, und Lily wurde ganz warm ums Herz. »Ah, dann bist du also eine von uns. Hab den Namen deiner Mama vergessen. Ist in den Süden gegangen, nie zurückgekommen.«
»Georgiana«, sprang ihr Lily eifrig bei.
»Ja, richtig. Georgie haben wir sie gerufen. Ja, Georgie. Das war eine Wilde!« Biddy plumpste in einen Segeltuch-Klappstuhl und begann ihre ausgetretenen Sandalen aufzuschnüren.
»Großmama ist Mollies Enkelin oder Minnies Urenkelin. Sie hat für Olivia gearbeitet, bis sie nach dem Krieg die Stadt verließ und nach Perth übersiedelte. Zeig ihr den Anhänger.«
Wieder holte Lily den Anhänger aus der Tasche und gab ihn Biddy.
Die alte Frau untersuchte ihn sorgfältig, sagte aber nichts dazu, sondern nickte Lily nur wissend zu, als sie ihn zurückgab. Lily steckte ihn wieder in die Tasche, und Biddy fragte: »Hast du Kinder?«
»Ja. Nur eins. Samantha.«
»Na, dann bring sie mal her,
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