Tränen des Mondes
damit sie ihre Familie kennenlernt. So gehört sich das.«
Lily verschlug es die Sprache. Dieser schlichte Satz, mit dem Biddy Familienbande und familiäre Verantwortung heraufbeschwor, traf Lily wie ein Keulenschlag. Ihre Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Wie würde Samantha auf alle diese Dinge reagieren? Noch wurde sie, Lily, kaum selbst mit den Tatsachen fertig. Biddy, diese alte schwarze Frau, gehörte zu ihrer Familie – zumindest in der Kultur der Aborigines. Lily fand diese Vorstellung so ungeheuerlich, daß sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte.
Rosie sprang ihr bei. »Jetzt mal langsam, Grandma, Lily hatte noch gar keine Zeit, sich Gedanken über die Familie zu machen. Sie hat ihre Herkunft erst in den letzten Tagen entdeckt. Ihre Mutter hat ihr nie von uns erzählt.«
Biddy hievte sich mühsam aus dem Stuhl. »Fisch soll besser in Kühlschrank. Kommst du heute abend rüber zum Essen?«
»Danke, Biddy, diese Einladung nehme ich sehr gerne an«, sagte Lily und wechselte dann mit Rosie ein breites Lächeln.
An jenem Abend lag Lily nach dem Abendessen auf dem Bett und starrte den sich langsam drehenden Ventilator an. Wie die Flügel des Ventilators kreisten ihre Gedanken immer wieder aufs neue um die Ereignisse des Tages. Die Begegnung mit Rosie und Biddy, das Essen, dann das lange Gespräch mit Rosie auf der Veranda. Während sie dem Mond zusahen, wie er in langem Bogen die Bucht überquerte, hatten sie sich über den Familienbegriff der Aborigines und die Weitläufigkeit ihrer Verwandtschaftsbeziehungen unterhalten. Lily beschwor auch jenes quälende Gefühl der Verwirrung wieder herauf, das durch die Begegnung mit Biddy noch verstärkt worden war. Die Worte der alten Frau hallten wie ein Echo in ihr wider:
Dann bist du also eine von uns.
Plötzlich grübelte Lily über Rosies Bemerkung nach, es sei etwas anderes, von Aborigines abzustammen, als wirklich eine Aborigine zu sein. Gehörte sie wirklich zu Biddys Leuten? War sie auch geistig wirklich ein Mitglied der Familie? Darauf wußte Lily keine Antwort.
Sie schaute auf das Telefon neben ihrem Bett und erwog einen Moment lang, ob sie nicht ihre Tochter anrufen sollte, ihren Freund, ihre beste Freundin, verwarf aber all diese Möglichkeiten gleich wieder. Keiner von ihnen würde begreifen, was sie gerade durchlebte. Das war ihr eigener Kampf, den sie ganz alleine ausfechten mußte. Der Schlaf der Erschöpfung hatte sie schon fast übermannt, als aus dem Nebel ihres Bewußtseins noch ein Gedanke nach oben drängte. Morgen würde sie zu Niah gehen. Dann sank sie in tiefen Schlaf.
Am nächsten Vormittag rief Lily bei der Autovermietung an und bat darum, ihr einen wirklich robusten Wagen mit Allradantrieb zum Continental zu bringen. Voller Zuversicht schlug sie ein zweites Mal dieselbe rote Sandstraße ein. Anders als beim ersten Mal machten ihr die strahlende Helligkeit des Himmels, der puderweiche orangefarbene Staub unter den Rädern und die heiße Brise, die zum Fenster hereinwehte, nichts aus.
Auf ihrer Fahrt in den Norden ging Lily ihre Geschichte noch einmal durch und tastete hin und wieder nach dem Anhänger, den sie sich um den Hals gehängt hatte. Wie einfach war es doch, ihre weißen Vorfahren aus Broome ins Herz zu schließen. Wie faszinierend war deren Lebensgeschichte! Sie hatten gekämpft und gesiegt. Doch mit diesem Kampf war auch die Geschichte der Verschmelzung verschiedener Völker verbunden, ineinander verschlungene Lebenspfade, die Lily dorthin geführt hatten, wo sie heute war. Lily begriff jetzt, warum ihre Mutter ihrer Familie den Rücken gekehrt und ihr Erbe verworfen hatte. In jenen Zeiten bedeutete es in der weißen Oberschicht ein gesellschaftliches Todesurteil, wenn man gemischtes oder schwarzes Blut in den Adern hatte. Eine solche Person besaß keinerlei Rechte.
Lily konnte die Einstellung ihrer Mutter nicht einfach übernehmen und ihr Wissen wie Georgie verleugnen. Doch je mehr sie über die Haltung ihrer Mutter nachdachte, desto klarer erkannte sie, wie sehr Georgiana ein Kind ihrer Zeit war. Dennoch mußte sie tief im Innersten von ihrer Herkunft berührt gewesen sein, denn sie hatte die Fäden nicht vollständig abreißen lassen. Georgiana war es schließlich gewesen, die Olivias Tagebücher, Briefe und Fotos an das Historische Museum von Broome übergeben hatte. Das geschah wohl in der Annahme, Lily würde, wenn sie an ihren Wurzeln wirklich interessiert wäre, ihrer Geschichte nachspüren. Was sie dann
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