Tränen des Mondes
vieles gleichgeblieben – die Schilder mit den asiatischen Schriftzeichen, die Gesichter, in denen sich viele Kulturen mischten, die Gerüche, die Farben.
Lily folgte Rosies Anweisungen und stieg am Ufer hinauf, bis sie den Gipfel der Landspitze erreicht hatte, die sich über der Bucht erhob. Ein großes altes Haus schaute auf das smaragdgrüne Wasser hinaus, umgeben von einer schattigen, Kühle versprechenden Veranda. Als Lily auf das Haus zuging, erkannte sie es plötzlich wieder, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie den mächtigen Poinciana-Baum im Garten sah. Sie erinnerte sich an den bewegenden Eintrag im Tagebuch, in dem Olivia beschrieb, wie sie die Erde von James' Grab dort verstreut hatte. Lily wußte, daß sie vor dem Haus von Olivia und Tyndall stand. Sie blieb stehen, als sie das Tor erreichte, fürchtete sich fast, zur Veranda zu gehen. Während sie noch zögerte, kam Rosie an die Stufen und rief ihr einen fröhlichen Gruß zu. »Hallo, Lily. Hier sind Sie am richtigen Ort.«
»Der richtige Ort«, dachte Lily, als sie wie in Trance den Weg zum Haus hinaufging. Der richtige Ort? Sie blieb oben auf den Stufen stehen und sah Rosie an, die nun neben einem Korbstuhl auf der Veranda stand. Einen Augenblick lang sagte keine der beiden Frauen ein Wort, statt dessen blickten sie einander nur tief in die Augen.
Rosie brach schließlich das Schweigen. »Ja, jetzt kann ich es sehen. Sie sind eine von uns. Ich hatte schon so ein Gefühl am Abend der Ausstellung, als wir uns über das Bild unterhielten, aber damals dachte ich, das wäre alles nur Einbildung. Da zeigt sich mal wieder, daß wir immer auf die innere Stimme hören sollten. Wie haben Sie es rausgefunden?«
»Aus den Tagebüchern meiner Urgroßmutter, die im Historischen Museum liegen. Ich habe tagelang darin gelesen.« Lily hielt inne und nahm ihren Strohhut ab. »Ein bißchen schwer, das alles zu verdauen. Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen.«
»Dann setzen Sie sich mal lieber«, schlug Rosie ihr lachend vor. »Der Kaffee ist gerade fertig, Sie kommen genau richtig.« Sie goß eine Tasse ein und reichte sie Lily. »Dann glauben Sie also, daß die ›Tränen des Mondes‹ etwas bedeuten? Und was wäre das?«
Lily erzählte die ganze Geschichte so knapp wie möglich, beschränkte sich auf ihre Verbindung zu Maya und Niah und zeigte Rosie dann den Anhänger, den sie in ihre Handtasche gesteckt hatte. Rosie ließ ehrfürchtig ihre Finger darübergleiten und gab ihn dann zurück. »Der ist echt. Dann sind Sie – bist du also eine von Minnies Leuten, was?«
Lily holte tief Luft. »Sieht ganz danach aus.«
»Damit wären wir beide Verwandte, wir gehören zur selben Familie.« Sie sah Lily eindringlich an.
»Ja, so ist es wohl.« Lily brachte nur noch ein Flüstern zustande. Rosie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Lily unentwegt an, während sie weitersprach: »Ihr müßt Geduld mit mir haben. Es ist nicht einfach …« Sie stockte und suchte nach dem richtigen Wort.
Rosies feierlicher Gesichtsausdruck löste sich in einem breiten Lächeln auf. »Sondern wie eine Bombe, die bei dir eingeschlagen hat, Lily. So wirst du es sicher empfinden, wenn du drüber nachdenkst. Du brauchst nicht sofort irgendwelche großen Entscheidungen zu fällen. Lieber Himmel, Leute wie du schießen überall wie die Pilze aus dem Boden. Komm erst mal ins Haus und schau dich um. Wahrscheinlich hast du aus Olivias Tagebüchern jede Menge Bilder im Kopf, wie es darin aussehen muß.«
Lily spürte, wie eine erdrückende Last von ihren Schultern glitt, als Rosie ihre Hand ergriff. Sie hielten sich immer noch an den Händen, als sie ins Wohnzimmer traten, wo eine wunderschöne Fotografie Olivias in einem ovalen Rahmen hing.
»Da ist sie«, sagte Rosie mit unverhohlener Bewunderung. »Großartig, findest du nicht? So stark, so schön. Das kommt in den Schnappschüssen unten im Museum gar nicht richtig zum Ausdruck. Dieses Foto wurde von einem reisenden japanischen Fotografen aufgenommen, kurz vor dem Krieg.« Olivia schaute verdutzt aus dem Foto heraus, als wollte sie jeden Moment in Gelächter ausbrechen. Ihre dicken Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und zu einem komplizierten Knoten geschlungen, ein weiches Kleid aus bedrucktem Chiffon schmiegte sich um ihren Oberkörper, um ihren Hals hing eine Kette prachtvoller Perlen.
»Du warst ihr wohl sehr nahe«, sagte Lily, als sie die Wärme erkannte, mit der Rosie über Olivia sprach. »Ich bin ihr
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