Tränen des Mondes
Übereinstimmung zu stehen. Dann war Lily auf eine teure Privatschule in Sydney geschickt worden und hatte ihre Verwandte nie mehr wiedergesehen. Ungerührt hatte Georgiana ihr verkündet, Westaustralien läge noch weiter hinter dem Mond als das übrige Australien.
Selbstbezogen wie Kinder sind, hatte Lily ihre Mutter nie mit Fragen über ihre Familie behelligt. Als sie mit ihrer eigenen Tochter Samantha schwanger war, hatte sie Georgiana in einem Brief gefragt, ob es mögliche Erbkrankheiten in der Familie gäbe. Georgiana hatte Lilys Ängste beiseite geschoben und erklärt, sie wüßte so gut wir gar nichts über die Krankheitsgeschichte von Lilys Vater und würde auch deswegen keinen Kontakt mit seiner Familie aufnehmen, selbst wenn sie wüßte, wo sie lebte. In ihrem Antwortbrief hatte Georgiana wörtlich gesagt:
Das Leben beginnt mit der Geburt. Vergiß allen Ballast, du kannst ja sowieso nichts mehr ändern. Ich habe versucht, dich frei zu erziehen. Du wirst herausfinden, was du wissen mußt, wenn die Zeit dafür reif ist. Manchmal kann zuviel Wissen auch schmerzhaft sein.
Lily konnte mit dieser Bemerkung wenig anfangen, war sich aber bewußt, daß sie von ihrer Mutter mehr nicht bekommen würde. Ihr damaliger Mann Stephen meinte, sie sollte sich den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen. Er war froh, daß seine exzentrische, launische Schwiegermutter ihr eigenes Leben führte und begegnete ihr mit unermeßlicher Geduld, was ihn bei Georgiana nicht gerade beliebt machte. Als er und Lily sich scheiden ließen, war Georgiana entzückt, konnte sie doch künftig bei ihren Besuchen Lilys und Samis ungeteilter Aufmerksamkeit gewiß sein, ohne die lästigen Unterbrechungen und Einmischungen durch ›diesen Mann‹.
Lily bestand jedoch darauf, daß Stephen Kontakt mit Sami hielt. »Ich hatte kein männliches Vorbild in meinem Leben, und ein Mädchen braucht seinen Vater.«
Ihr Ex-Mann, ein Akademiker, der mit den Widrigkeiten des alltäglichen Lebens wenig vertraut war, war ein liebevoller, wenn auch entfernter Vater – entfernt, weil sie nicht in derselben Stadt lebten.
Lily seufzte. Hätte sie doch darauf gedrungen, daß Georgiana ihr mehr über ihre Familie erzählte. Sie brannte darauf, alles über die Herkunft ihrer Mutter zu wissen, und nun war es zu spät. Zu spät, um ihre rebellische, flatterhafte, unabhängige Mutter zu verstehen, die ihr Leben in vollen Zügen genossen hatte. Nicht einmal ›Mutter‹ hatte sie sie nennen dürfen. Georgiana fand, das mache sie alt. Selbst im reiferen Alter hatte Georgiana weiterhin unbekümmert geflirtet und immer viel jünger ausgesehen, als sie wirklich war. Und ihre Enkeltochter mußte sie Georgie nennen, keinesfalls Oma.
Damals hatten Lily und Sami sich darüber amüsiert, aus heutiger Sicht fand Lily, daß die kapriziösen Launen ihrer Mutter nur dazu dienten, Aufmerksamkeit zu erhaschen.
In ihrer Jugendzeit wurde Lily von ihren Freunden um ihre glamouröse, lustige und leicht überspannte Mutter beneidet. In Wahrheit war Georgiana selbstsüchtig und egozentrisch gewesen und hatte sie, wie Lily heute erkennen mußte, um ihre Familie gebracht.
Als sie sich so ihrem Kummer hingab, wurde ihr allmählich bewußt, daß sie genau das tat, was sie Georgiana vorwarf – sie schloß alle anderen aus. Sie hatte Sami den Tod der Großmutter so schonend wie möglich beigebracht. Ihre Tochter war daraufhin mit dem Flugzeug aus Melbourne gekommen, um an dem schlichten Begräbnis teilzunehmen. Da jedoch die Prüfungstermine nahe bevorstanden, hatte Lily sie gedrängt, gleich wieder an die Universität zurückzukehren.
Erst jetzt machte sie sich Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit diesem ersten unerwarteten Todesfall in ihrem kleinen Familienverband fertig würde. Sie beide sollten ihren Kummer teilen. Lily fand es nicht richtig, daß in der heutigen Gesellschaft das Trauern als Privatangelegenheit angesehen wurde. Wo blieb das Ritual, wo das Wehklagen, das Teilen und gemeinsame Ertragen des Schmerzes, die Tradition des Todes, wie sie in anderen Kulturen gepflegt wurde? Fiel ihr der Abschied von ihrer Mutter deshalb so schwer?
Der Gedanke versetzte Lily einen bitteren Stich. Sie stand auf und öffnete den Kleiderschrank ihrer Mutter. Außer den satinbezogenen Kleiderbügeln gab es nichts in dem Schrank, bis auf einen alten Lederkoffer, der, wie Lily wußte, das Herzstück von Georgianas Leben enthielt. Sie hatte ihn ihr einmal gezeigt und dabei gesagt: »Wenn ich
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