Traenenengel
ihnen irgendwas erzählen, sonst hätten die doch gedacht, ich bin ...«
»Krank.« Trixi sah auf das kleine Messer in Floras Hand. »Du bist krank.«
Floras Lippen zitterten, sie atmete stockend.
Die Mädchen saßen schweigend in der Kabine. Die Sekunden verstrichen. Die Stille füllte den kleinen Raum wie Beton, Trixi
hatte das Gefühl zu ersticken. »Du brauchst Hilfe«, sagte sie schließlich und hielt Flora die Hand hin.
21. Kapitel
[Telpener Tagesblatt, 19. Juli]
Justizirrtum in letzter Minute verhindert
Im Fall der Körperverletzung der Flora D. kam es gestern zu einer erschreckenden Wendung. Die 1 6-Jährige war vor ein paar Wochen in den frühen Morgenstunden nackt mit Schnittwunden am ganzen Körper auf der Badeinsel des Telpener
Sees aufgefunden worden. Sie gab zunächst an, keine Erinnerung an die Tatnacht zu haben, erstattete jedoch eine Woche darauf
Anzeige gegen Hagen G., den Sohn vom Freund ihrer Mutter.
Gestern zog Flora D. ihre Anzeige zurück. Das Verfahren gegen Hagen G. wurde eingestellt. Flora D. gestand, sich die Verletzungen
selbst zugefügt zu haben. Ein umgehend hinzugezogener Experte der Gerichtsmedizin bestätigte, dass die Art, Tiefe und Platzierung
der Wunden auf Selbstverletzung schließen ließen.
Laut Aussage der als Gutachterin eingesetzten Psychologin Juliane Leimbach leidet Flora D. an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung.
Personen, die unter der genannten Persönlichkeitsstörung leiden, wollen Aufmerksamkeit erzielen, im Mittelpunkt stehen, haben
ein ständiges Verlangen nach Anerkennung und neigen zum Lügen und Manipulieren. Durch die Verletzungen wollte sich die 1 6-Jährige die Zuwendung der Umwelt erzwingen, so Leimbach weiter. Die Erstattung der Anzeige gegen Hagen G. kam jedoch durch Druck
von außen zustande. Auch das ist laut Leimbach bezeichnend für Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung. Mit der polizeilichen
Anzeige setzen sie dann etwas in Gang, das sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr aufhalten können. Leimbach erklärte weiter,
dass ihr in ihrer Funktion als Gutachterin circa 30 Prozent so oder ähnlich geartete Falschaussagen begegnen. Dabei handelt es sich meistens um Fälle mit Körperverletzung oder
Sexualdelikte. Häufig stehe letztlich Aussage gegen Aussage und es könne leicht zu Justizirrtümern kommen. Ein hoher Prozentsatz
dieser »falschen Opfer«, zu denen auch Flora D. zählt,leidet Leimbach zufolge unter einer Persönlichkeitsstörung wie z. B. dem Borderline-Syndrom. Die Psychologin plädiert für einen kritischeren Umgang mit Zeugen.
Flora D. wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und befindet sich in Behandlung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt
wegen Vortäuschung einer Straftat. Hagen G. wurde aus der Untersuchungshaft entlassen.
***
In der Telpener Justizvollzugsanstalt, Zelle 211, ließ der Häftling und ehemalige Lehrer Sven Thiele das »Telpener Tagesblatt«
sinken. Das Zeitungspapier raschelte in seinen zitternden Händen. Er sah durch das vergitterte Fenster nach draußen auf den
hellgrauen Himmel über Telpen. Seine Augen waren wässrig. Er legte die Zeitung langsam zur Seite, stand auf, ging zur Tür
und rief nach dem Wärter. Er wollte sofort seinen Anwalt sprechen.
Informationen zum Buch
Ein mit Schnittwunden übersätes Mädchen – mitten auf einer Badeinsel im See. Niemand weiß, wer der 1 6-jährigen Flora das angetan hat. Spuren gibt es viele, doch zum Täter führt keine. Flora selbst scheint die unheilvolle Nacht vollkommen
aus ihrem Gedächtnis gelöscht zu haben. Oder schweigt sie absichtlich?
Informationen zur Autorin
Franziska Gehm
wurde 1974 in Sondershausen geboren. Nach ihrem Studium in Deutschland, England und Irland arbeitete sie bei einem Wiener
Radiosender, an einem Gymnasium in Dänemark und bei einem Kinderbuchverlag. Heute lebt sie als Autorin und Übersetzerin mit
ihrer Familie in München. Sie hat mittlerweile zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt
wurden.
Weitere Kostenlose Bücher