Träum süß, kleine Schwester
von sich sprach.
In dem spärlichen Licht, daß die Kugellampe – eine Tiffany-Imitation – auf die verschrammte Theke warf, bewunderte der schweigsame Ernie Loretta wortlos. Sie mußte bereits Mitte Fünfzig sein, hatte aber noch immer eine sehr, sehr gute Figur. Trotzdem beschäftigte er sich nicht weiter mit ihr. Das Lotterie-Gewinnlos, das er mit einer Sicherheitsnadel an seinem Unterhemd befestigt hatte, erwärmte seine Herzgegend. Es war, als glühe dort ein Feuer. Zwei Millionen Dollar! Das waren mit Zinsen zwanzig Jahre lang hunderttausend Dollar jährlich. Und soviel würden sie bis weit in das einundzwanzigste Jahrhundert beziehen. Vielleicht wären sie dann sogar in der Lage, mit dem Reisebüro Cook auf den Mond zu fliegen.
Ernie versuchte, sich Wilmas Gesichtsausdruck vorzustellen, wenn sie von dem Gewinn erfuhr. Wilmas Schwester Dorothy besaß keinen Fernsehapparat und hörte nur selten Radio, deshalb wußte Wilma in Philadelphia noch nicht, daß sie reich war. In dem Augenblick, in dem Ernie die gute Nachricht in seinem Kofferradio gehört hatte, war er eine Sekunde lang in Versuchung gewesen, zum Telefon zu stürzen und Wilma anzurufen, hatte aber sofort erkannt, daß es so keinen Spaß machen würde. Erst als er daran dachte, daß Wilma am nächsten Tag nach Hause kommen würde, lächelte er glücklich, so daß sein rundes Gesicht wie ein fröhlicher Pfannkuchen aussah. Er würde sie am Bahnhof in Newark abholen. Sie würde ihn fragen, wie nahe sie an einen Gewinn herangekommen wären. »Haben wir zwei von den Zahlen richtig? Oder drei?« Er würde behaupten, daß sie nicht einmal eine Zahl richtig hatten. Wenn sie dann nach Hause kamen, würde ihre Stumpfhose auf dem Kaminsims hängen, wie damals, als sie jung verheiratet waren. Früher hatte Wilma Strümpfe und Strumpfbänder getragen. Jetzt trug sie Strumpfhosen in Übergröße, mußte sich also bis zur Zehenspitze durcharbeiten, um das Los herauszuholen.
»Such nur«, wollte er sagen, »du wirst überrascht sein.«
Er konnte sich genau vorstellen, wie sie ihn jubelnd umarmen würde.
Als er Wilma vor vierzig Jahren geheiratet hatte, war sie ein verdammt niedliches junges Mädchen gewesen. Doch war ihr Gesicht noch immer hübsch, und ihr weiches, weißblondes Haar war naturgewellt. Sie war kein Revuegirl wie Loretta, aber er mochte sie, wie sie war.
Manchmal war sie schlecht gelaunt, weil er gelegentlich mit den Jungs einen hob, aber für gewöhnlich war Wilma ein prima Kerl. Was das für ein Weihnachten dieses Jahr werden würde! Vielleicht würde er mit ihr zu Fred, dem Pelzhändler gehen und ihr einen Lammfellmantel oder sowas kaufen.
Ernie bestellte seinen vierten Seven and Seven, während er darüber nachdachte, was für ein Vergnügen es sein würde, seine Großzügigkeit zur Schau zu stellen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil Loretta Thistlebottom mit einem eigentümlichen Ritual beschäftigt war. Alle paar Minuten legte sie die Zigarette in ihrer rechten Hand in den Aschenbecher, stellte den Bierkrug in ihrer linken Hand auf die Theke und kratzte die Handfläche, die Finger und den Rücken der rechten Hand kräftig mit den langen, spitzen Fingernägeln der Linken. Ernie bemerkte, daß die rechte Hand entzündet, hochrot und mit kleinen, gemein aussehenden Blasen bedeckt war.
Es wurde spät, und die Gäste brachen allmählich auf.
Das Paar, das neben Ernie im rechten Winkel zu Loretta gesessen hatte, machte sich ebenfalls auf den Weg. Loretta sah, daß Ernie sie beobachtete und zuckte mit den Schultern. »Giftsumach«, erklärte sie. »Würdest du glauben, daß es im Dezember Giftsumach gibt? Jimbos idiotische Schwester findet, daß sie gärtnerische Begabung besitzt, und hat ihren armen Trottel von Ehemann dazu gebracht, neben ihrer Küche ein Treibhaus aufzustellen.
Und was wächst in ihm? Unkraut und Giftsumach. Das ist eine Meisterleistung.« Loretta hob noch einmal die Schultern und holte sich ihr Bier und ihre Zigarette wieder. »Wie geht es eigentlich dir, Ernie? Gibt es etwas Neues?«
Ernie war vorsichtig. »Nicht viel.«
Loretta seufzte. »Bei mir auch nicht. Immer das gleiche alte Lied. Jimbo und ich sparen, damit wir nächstes Jahr, wenn er in Pension geht, von hier fortziehen können. Alle behaupten, daß in Fort Lauderdale wirklich was los ist.
Jimbo bekommt von den Jahren, in den er den Sattelschlepper gefahren hat, Hämorrhoiden. Ich rechne ihm immer wieder vor, wie viel ich als Aushilfskellnerin
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