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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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zurück im Haus, als ein junger Engländer, mit dem ich heute verabredet bin, die Treppe herunterkommt. Er ist Einkäufer bei einem Londoner Weinhandel. In seiner tadellosen beigen Hose, dem frischen hellblauen Hemd und mit der blassen Gesichtsfarbe wirkt er, als würde er aus einer anderen Dimension herabsteigen. Die schwere Decke von geronnener Wärme scheint vor ihm zurückzuweichen, die Sonne gleitet von seiner Haut ab. Bleich und verirrt wie ein Kolonialherr auf einem Dorfplatz in Zentralafrika schaut er sich um. Ich gebe die einheimische gebräunte Wilde, die sich mit ihren nackten Armen und Beinen wenig zivilisiert gegen all die gestärkte Baumwolle abhebt. Ich seufze.
    Trotz der dumpfen Wärme willigt er in eine Führung durch die Weinfelder ein. Dann probieren wir im Haus die Weine. Ich habe sie dieses Mal alle, auch die Rotweine, kurz in den Kühlschrank gestellt, und bin jetzt überrascht von ihrer Frische. Die Tannine sind schön sanft und rund, und der Geruch scheint in hohen Gläsern besonders voll zu schweben. Zufrieden entziffere ich in den Notizen des Mannes, die mir gegenüberliegen, an zwei Stellen das Wort superb .
    Dann müssen wir zusammen zu Mittag essen, und das ist anstrengender, als auf einer Messe hinter einer Reihe von Weingläsern zu sitzen. Ich platziere ihn draußen an den Tisch und gehe zurück ins Haus, um das Essen zu holen. Von Weitem sehe ich ihn da so sitzen, wie er auf meine Rückkehr wartet und sich dabei offenbar nicht recht wohl in seiner Haut fühlt. In solchen Momenten wäre es sehr angenehm, wenn ich auf dem Weingut jemanden an meiner Seite hätte.
    Es ist noch dunkel, als ich höre, wie die ersten Metallstühle über den Kies geschoben werden. Nach ein paar Tagen des Zweifels ist es nun so weit – der erste Tag der Ernte. Im Halbdunkel gehe ich durch den klirrenden Fliegenvorhang nach draußen, wo Bruno dick und unbeweglich auf seinem angestammten Platz vor dem Lavendel sitzt. Er blickt mich lang und intensiv an, des sentiments plus forts que le métier .
    Â»Siehst du jetzt, dass es um halb sieben noch zu dunkel ist!«, sage ich. »Ja, nun ja«, grummelt er, während er sich halb auf seinem Stuhl umdreht und sorgenvoll zu dem Berg hinter dem Schwimmbad hinüberblickt. Die Erntehelfer am Tisch starren ausdruckslos in dieselbe Richtung.
    Dann, auf einmal, ist er da. Ein bescheidener oranger Schimmer, der ankündigt, dass an dieser Stelle irgendwann einmal eine Sonne aufgehen wird. Erst eine Viertelstunde später ist die rosarote Glut dem ersten schmalen Rand einer Scheibe gewichen. Und dann geht es plötzlich schnell. Jede Minute wird die Scheibe ein wenig größer, bis auch die Bäume und der Kies um uns herum von einem hellgelben Licht beschienen werden. Ich gehe davon aus, dass inzwischen auch die Trauben zu finden sind.
    Â»Okay Leute, wir fangen an!«, rufe ich und schrecke die in einen meditativen Zustand verfallene Gruppe erbarmungslos auf. Also erheben sich die Erntehelfer und gehen in die Weinfelder. Ich komme mit, und sobald alle ihren Platz gefunden haben und die ersten Trauben in die Eimer fallen, kehre ich in aller Ruhe zurück in den Weinkeller. Dort stehen sämtliche Apparate, vertrauenerweckend, jeder an seinem Platz. Ich kann mir fast nicht mehr vorstellen, dass ich je daran zweifeln konnte, wie ich all diese Geräte miteinander verbinden muss, dass ich jemals Panik verspürte bei einer Prozedur, die so ruhig und selbstverständlich abläuft. Da kommen auch schon die ersten Kisten, in aller Ruhe sortiere ich die Trauben. Ich stehe praktisch umsonst am Sortiertisch – alle Rispen sind gleich schön und ebenmäßig in Form und Farbe. Ich probiere ein paar Trauben, muss mich zurückhalten, nicht die halbe Ernte aufzuessen, sie schmecken herrlich.
    Am Ende des Vormittags klettere ich auf die Presse. Ich schiebe die schweren Türen aus Edelstahl zu und stelle mich vor das Bedienfeld. Erst drehe ich die Trommel ein paar Mal. Die Ladung Trauben verschiebt sich langsam auf eine Seite, der erste Saft fließt in einem dicken Strahl in den Behälter darunter. Ich gebe noch etwas zusätzliches Gas auf den Saft und pumpe ihn dann in das gekühlte Fass vorne im Weinkeller. Jetzt erhöhe ich den Druck der Presse.
    Ich bin Siebe noch immer dankbar dafür, dass er diese Presse ausgesucht hat. Es war damals die teuerste Presse auf dem Markt, und

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