Traeume ernten
jemanden wie ihn einen solitaire courageux nennen. Jetzt verstehe ich auch, warum. Weil er sich an einem Berg totarbeitet, an dem er nie einen Cent verdienen wird. Er jammert, ohne irgendetwas zu unternehmen, um seine Situation zu verändern.
Und das Schlimmste sehe ich jetzt auch: Ich habe ihn die ganze Zeit über mit dem wohlwollenden Blick der Ex-Städterin betrachtet. Ich muss an einen Weinhändler in Amsterdam denken, der in seinem Haus an der Gracht von einem armen Winzer schwärmte, der auf einer Matratze in seinem Weinkeller lebt. »Ultimativ romantisch«, nannte er das. Langsam gestehe ich mir ein, dass sich Pierre nicht von der Welt zurückgezogen hat, weil er so eins mit der Natur ist. Er hat vielmehr einer Gemeinschaft den Rücken gekehrt, in der er selber keinen Platz gefunden hat.
Erst jetzt sehe ich, wie unterschiedlich wir sind, dass wir unterschiedliche Träume haben, und das Wichtigste begreife ich jetzt auch: Er hat bereits mehr als genug mit jemand anderem zu tun â mit sich selbst. Jetzt mündet die Piste allmählich in einen Abgrund, eine Zeit lang versuche ich noch gegenzuhalten, dann falle ich, über mich selbst stürzend, nach unten.
Der Aufprall ist schmerzhafter, als ich gedacht hatte.
21
Ich lehne mich gegen das rotgestrichene Betonfass und starre in den weiÃen Plastikbehälter zu meinen FüÃen, in den aus einem Edelstahlkran eine schäumende rosarote Mousse strömt. Im Zentrum des heftigen Wirbels, der dabei entsteht, werden die Luftblasen immer gröÃer, um dann wie rosa Kaugummiblasen zu zerplatzen. Es riecht nach Erdbeeren, nach Himbeeren, nach unbekannten Blumen. Ich gebe mich diesem Geruch sehnsüchtig hin, gehe in ihm auf und lasse ihn meinen Kopf ganz ausfüllen, damit kein Platz für andere Gedanken mehr bleibt. Es fällt mir schwer, all die Träume und Ideale der vergangenen Zeit beiseitezuschieben, um wieder alleine zu sein. Ich fühle, wie die Trauer schwer in mich einsinkt und etwas anderes Einzug hält, das ich schon sehr lange nicht mehr gefühlt habe: Leere. Ich entschlieÃe mich, dieses neue Gefühl als Freiheit zu interpretieren, und versuche krampfhaft, diesen Gedanken nicht mehr loszulassen. Denn nur das ist sinnvoll. Aber dann denke ich erschöpft, dass es vielleicht besser wäre, mich, wie jeder andere auch, aufs Sofa zu legen und zu weinen. Lange zu weinen.
Ich drehe den Kran wieder zu. Als der Schlauch schlürfend den letzten Rest Wein aufgesaugt hat, lasse ich den Behälter mit Wasser volllaufen. Zwischen den violetten Plastikrillen ist der Schlauch durchsichtig, und ich kann beobachten, wie das Wasser den letzten Rest Wein verdrängt. Kurz bevor es den oberen Rand des Tanks erreicht hat, lege ich den Hebel an der Pumpe um und lasse es in die andere Richtung laufen. Dann klettere ich auf die Leiter, hole den Schlauch herunter und beginne mit der rituellen Säuberung der Geräte. Als ich die schwere, bordeauxrote Pumpe auf ihren Platz zurückfahre, höre ich Gaspard schreien und Autoreifen auf dem Kies knirschen. Die ersten Besucher kommen an.
Die Idee stammt von »Moerland«, der Ferienhausvermittlung. Jeden Donnerstag um vier Uhr gibt es jetzt eine Führung auf Mas des Dames . »Muss ich Ihnen nichts dafür bezahlen, dass Sie mir all die Leute schicken?«, hatte ich gefragt.
»Nein, wissen Sie«, hatten sie bei »Moerland« geantwortet, »es ist doch ein guter Service für unsere Mieter. Und wir helfen Ihnen gerne.« Auch die Niederländer Henny und Marianne, die in einem schönen Haus bei Saint Chinian Ferienwohnungen vermieten, schicken jede Woche ihre Gäste bei mir vorbei. Es freut mich, dass sie mir alle helfen â es verleiht dem, was ich tue, Sinn.
Im Moment betrachte ich die Gruppe freundlicher Menschen, die sich erwartungsvoll vor dem Eingangstor versammelt haben, allerdings mit einiger Verwunderung. Ein kräftiger blonder Mann in einem hellblauen Hemd signalisiert seiner Frau, doch endlich hereinzukommen, und zwei vielleicht zehn Jahre alte Jungen drängeln sich vor dem Auslauf von Tom und Gaspard. »Was für ein cooler Esel!«
»Nein, geh weg, ich will ihn streicheln!« Ich schaue auf mein Handy, es ist noch nicht halb vier. Also gehe ich noch einmal schnell ins Haus, kontrolliere, ob alle Weine gut temperiert sind, mache die Häppchen fertig und ziehe mir saubere Kleider an. Im Badezimmer stütze ich
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