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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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mich auf den Waschtisch und starre ein paar Sekunden lang in das müde Gesicht im Spiegel. Es fällt mir nicht leicht, wieder nach draußen zu gehen, der Kontakt zur Pumpe war heute jedenfalls einfacher.
    Also stehe ich zunächst wie ein verschrecktes Kaninchen vor der großen Gruppe gesunder, glücklicher Touristen. Ich habe absolut keine Lust, ihnen zu erzählen, wie unglaublich schön mein Leben hier ist – oder dass ich so ein netter Mensch bin. Aber dann entdecke ich die vereinzelten interessierten Gesichter im Publikum, einige nette Frauen, die mir alle im voraus ihre Solidarität zutragen. Sie sind schließlich nur ein einziges Mal hier und können nichts für meine niedergeschlagene Stimmung. Zu meiner Überraschung merke ich, dass es mir sogar guttut, meine Geschichte zu erzählen. Mit Abstand betrachtet, losgelöst von all dem emotionalen Beiwerk, ist es gar nicht so schlecht hier. Und meine Weine sind schließlich auch ziemlich lecker (ein wenig Alkohol hilft eben immer). Während ich mir selber zuhöre, wird mir erneut bewusst, dass ich froh bin, hier zu sein, wie auch immer es gerade laufen mag.
    Die Tage gleiten dahin – es ist wieder Donnerstag. Dieses Mal schließt sich eine junge Frau der Gruppe an. Sie ist zusammen mit ihrem großen, schlanken Mann und einem kleinen Kind auf dem Arm gekommen. Ich merke schon bald, dass ich meine Geschichte vor allem ihr erzähle. Ich mag sie!, denke ich.
    Als die letzten Leute mit Weinkartons bepackt den Weinkeller verlassen, bleibt sie wie selbstverständlich zurück. Ich lade sie und ihren Mann auf die Terrasse mit dem summenden Ventilator ein, wir trinken Rosé, essen Hummus mit Pita und Pistazien. Barbara heißt sie, sie ist Journalistin, ihr Vater hat ein Ferienhaus im nächsten Dorf. Zufrieden konstatiere ich, dass sie öfter hier sein muss – wieder ein Anker in der normalen Welt.
    Ich parke mein Auto, nicht ganz ohne Schwierigkeiten, an der steil abfallenden Seite von Béziers, von wo aus ich eine weite Aussicht über das sanft abfallende Land habe. Dort hinten muss irgendwo der Hügel sein, auf dem Murviel liegt. Ich erkenne die verschwommenen Konturen des Schlosses, erahne das Tal von Mas des Dames schrägt dahinter. Hand in Hand mit Marijn überquere ich die Straße, an einer hohen Mauer entlang gehen wir bis zu einem großen bogenförmigen Tor. »Pic« steht über dem Tor – Privé Immaculée-Conception . Das klingt ziemlich katholisch und ist es auch: Die Schule wurde 1840 von den Frères Lasalle errichtet, die Gebäude und die ausgedehnten Sportfelder außerhalb der Stadt gehören ihnen noch heute, auch wenn sie längst keinen Unterricht mehr geben.
    Durch eine Halle gehen wir zu einem großen Platz, auf dem weit ausladende Platanen stehen und der umgeben ist von hohen sandfarbenen Gebäuden, die eine Galerie mit einer gusseisernen Brüstung haben. In einer Ecke des Innenhofs steht eine Kapelle mit Bogenfenstern. Man sieht die ordentlich gekämmten Jungen vor sich, die hier vor 150 Jahren entlanggelaufen sein müssen. Damals war das »Pic« noch ein Internat. Über den Klassenräumen befinden sich endlose Gänge mit Zimmern, die schon seit etlichen Jahren leer stehen, es gibt dort sogar ein Raritätenkabinett.
    Als wir im Büro des Direktors sitzen, erzählt er uns von diesem Raum oberhalb der Bibliothek, wo in Vitrinenschränken ausgestopfte Eisbären stehen, ein Löwenpärchen und sogar ein Schaf mit zwei Köpfen. Marijn nickt aufmerksam. Der Direktor wendet sich an sie: »Erzähl mir, warum du auf diese Schule gehen möchtest?«
    Verlegen sucht sie nach einer Antwort und findet sie schließlich. Der Direktor blickt sie amüsiert an, stellt noch ein paar schlaue, herausfordernde Fragen, nicht mir, sondern ihr. Ich merke, wie spannend sie das findet, wie sie lacht, nach Worten sucht.
    Das ist es, was ich für sie möchte, denke ich gerührt. Als wir nach draußen gehen, hat gerade die Pause begonnen. Wir überqueren einen Schulhof voller Jungs in angesagten Klamotten und halblangem Haar und gepflegten Mädchen in trendigen Kleidern. Voilà, die ortsansässige Bourgeoisie – sie sind den Jungen und Mädchen aus unserer alten Wohngegend in Haarlem sehr ähnlich. Ich schaue mich um. Hier laufen wohl kaum Kinder herum, die später mal auf einem Traktor sitzen werden. Ihre Eltern

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