Traeume ernten
unbeschädigt. Man könnte einfach ein Tuch darüber werfen und sie so, wie sie ist, zurück in den Ausstellungsraum des Geschäfts stellen, wo wir sie gekauft haben.
Ich gehe zu den beiden Männern hinüber. Siebe grüÃt mich gedankenverloren und spricht dann weiter über den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Hektoliter pro Hektar. Ich schaue mir die weiÃen Kanister an, die auf dem Boden stehen und mit etlichen Darstellungen von Totenköpfen und nach Luft schnappenden Fischen beklebt sind. Dann knie ich mich hin, um einen der Hinweise hinten auf den Kanistern zu lesen: »très nocif pour le milieu aquatique«. Sofort muss ich an den kleinen Fluss weiter unten im Tal denken, an die Schwärme winziger Fische, die darin schwimmen. »Muss man wirklich so viel davon einsetzen?«, frage ich, woraufhin mich sogar Bruno verstört anschaut. Plötzlich sehe ich mich selber hier stehen, diese dumme Kuh aus der Stadt in ihrem hippen Röckchen. Was weià ich schon über Pflanzenschutzmittel? Und so gehe ich zurück ins Haus â vielleicht ist Laartje ja schon wach.
Das Weingut ist wie eine Insel. Wir befinden uns alleine in einem Meer aus grünen Feldern, die fast alle uns gehören, sodass dort nie jemand hinkommt. Nur selten erkenne ich, wie in der Ferne ein Bauer auf einem alten Traktor zu uns herüberschaut. Dann folge ich seinem Blick, sehe unsere neuen Geräte im Sonnenlicht vor dem Weinkeller blinken und frage mich, was er wohl über uns denken mag. Redet er heute Mittag im »Café de la Paix« über uns, schüttelt er seinen Kopf über die reichen Ausländer, die aus reinem Spieltrieb ein Weingut gekauft haben? Oder ist es ihm egal? Eigentlich spüre ich keine Feindseligkeit.
Als wir mit dem Auto aus dem Dorf zurückkehren und zum Weingut hinauffahren, kommen wir an einem Mann auf einem groÃen alten Bagger vorbei. Er fordert uns auf anzuhalten, während er geschickt über ein rostiges Trittbrett aus der hohen Kabine klettert. Der Mann ist schon etwas älter, ich blicke in dunkle, amüsierte Augen in einem tief gefurchten Gesicht. »André Lotard«, stellt er sich vor, »ich bin Ihr Nachbar. Ich wohne auf Les Carratiers .«
Das Gut, das ich bereits kenne und das wie ein kleines verlassenes Dorf wirkt, liegt ein paar Kilometer weiter unterhalb in der Nähe der dunklen Berge. Der Begriff »Nachbar« gewinnt hier also eine ganz neue Bedeutung. »Wenn Sie irgendwann mal Hilfe brauchen sollten«, sagt André und zeigt auf den Bagger, »on a tout le matériel!«
Vor der Schule spricht mich eine Frau mit lockigem, hellbraunem Haar an, deren Tochter Claire in Marijns Klasse geht. »Ich habe Schuhe, die meinen Kindern nicht mehr passen«, sagt sie, »vielleicht können Sie sie gebrauchen?« Ich betrachte ihr rosa T-Shirt mit den aufgestickten Bären und die orange geblümten Sandalen ihres Kindes â unwahrscheinlich, dass sie Sachen hat, die ich haben möchte. Aber was sollâs, seit wir hier wohnen, haben nur wenige Menschen Kontakt zu mir aufgenommen.
An diesem Nachmittag parke ich mein Auto am Rand des Dorfes. Murviel ist eines dieser südfranzösischen Dörfer, die in einer Bauweise errichtet sind, die man circulade nennt: Schmale SträÃchen, die in konzentrischen Kreisen um eine Mitte herum angeordnet sind, in der sich oft ein auf einem Berg gelegenes Schloss und eine Kirche befinden. Das Wort »historisch« hat hier eine völlig andere Bedeutung als in den Niederlanden. Bereits die Römer hielten Murviel für alt. Sie nannten das castrum , das Militärlager, das sie hier errichteten, muri vetuli , vieux murs , denn die Spuren der Bebauung an diesem Ort reichen bis in die Eisenzeit zurück. Das heutige Dorf wurde um das Jahr 1000 errichtet, und noch immer findet man in vielen Gebäuden Spuren aus dieser Zeit, groÃe Ornamente aus Naturstein, sogar einen alten Ziegenstall, den man mit seinem viereckigen Grundriss eher in Bethlehem erwarten würde. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag der letzte Häuserring noch innerhalb der Mauern aus unbehauenen Steinen. Erst mit dem Aufkommen des Weinbaus wurden auch Häuser an die AuÃenseite der Mauer angebaut, die schlieÃlich niedergerissen wurde, um das Material für neue Bauten verwenden zu können.
In der breiten StraÃe vor dem Tabakgeschäft hängt eine dichte, träge Wärme,
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