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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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»Sie wollte alle möglichen Dinge wissen, Mama«, sagt Marijn, »aber ich habe nichts verstanden. Ich hatte Angst, dass sie wütend wird. Aber ich konnte nicht aufhören zu weinen.« Schließlich hob die Lehrerin Marijn von dem Tisch herunter und holte in einem Akt unerwarteter Humanität Fiene dazu. »Ich habe meine Arme um Marijn gelegt«, sagt Fiene, »da hat sie nicht mehr geweint.«
    Fiene hat keine Probleme damit, am nächsten Tag wieder in die Schule zu gehen: »In der Puppenecke gibt es eine Badewanne, einen Wickeltisch und einen Kinderstuhl.«
    Marijns Reaktion sagt viel darüber aus, was für eine Frau sie einmal werden wird: Natürlich hat sie Angst, aber dann ist da diese schicksalsergebene Entschlossenheit, die bewirkt, dass sie sich doch ihren Rucksack umhängt und an Fienes Hand zum Auto geht. Im Rückspiegel sehe ich einen harten Zug um Marijns Mund. »Was sein muss, muss sein«, murmelt sie. Diese Vernunft und der Gedanke, dass sie nur durchhält, um lieb zu sein, dass sie es nur für mich tut, führen dazu, dass ich mich noch elender fühle.
    Â»Wenn das nicht funktioniert, will ich zurück in die Niederlande«, sage ich zu Aad.
    Nach einigen Gesprächen mit der Lehrerin wird Marijn nicht mehr auf Tische gesetzt, sondern kann in aller Stille ihren Platz in der Klasse einnehmen. Eines Tages parke ich mein Auto nach Unterrichtsbeginn ein Stück von der Schule entfernt. Ich gehe unbemerkt zum Schulhof, wo ich Fiene und Marijn sehe, wie sie im Schatten der Bäume umhergehen, drei andere Kinder folgen ihnen. Schließlich setzen sie sich auf eine kleine Bank und stecken tuschelnd ihre Köpfe zusammen. Marijn scheint immer noch so auf andere Kinder zu wirken wie schon in den Niederlanden. Etwas an ihr ist so ruhig, so sanft, dass Freunde sich ganz selbstverständlich an ihr wärmen wollen. In den Niederlanden waren es zwei Jungen, Jochem und Cos, die immer wieder zu ihr kamen. Hier, auf dieser Bank, setzt sich ein französischer Junge dicht neben sie, während ein Mädchen Marijns Haar löst und beginnt, es neu zu flechten. Marijn nimmt es mit der zufriedenen Gelassenheit einer großen Katze hin. Vielleicht ist es auch etwas anderes, sie beurteilt diese Aufmerksamkeit nicht, sucht sie nicht, sondern nimmt sie mit einer Natürlichkeit an, die wunderbar anzusehen ist.
    Fiene rennt währenddessen über den Schulhof. »Joue avec moi!« , ruft sie zwei Mädchen gebieterisch zu, die diesem Wunsch sofort und beinahe erschrocken nachkommen. Schnell hat Fiene einige sinnvolle Kommandos aufgeschnappt wie »À moi, non!« und »Ici!«. Ansonsten ergibt das, was sie sagt, absolut keinen Sinn. Wild drauflos gibt sie Sätze aus ihrem Französischbuch zum Besten. »Père Noë l! Père Noël!!!« , ruft sie Anfang Juni ein paar entsetzten Kindern zu. »Le chat est sur la table!« Ein kleines Mädchen nickt irritiert, wahrscheinlich in der Annahme, dass Niederländer sein und geistige Unzurechnungsfähigkeit so ungefähr dasselbe sind.
    Marijn bringt jeden Tag ihre fertigen Aufgaben aus der Schule mit nach Hause, weiße A4-Blätter mit französischen Vokabeln, die sie in ihrer regelmäßigen Handschrift auf eine punktierte Linie übertragen hat. Die dazugehörige Zeichnung hat sie sorgfältig ausgemalt. Sie weiß, was une pomme ist, une pelouse oder une piscine . Un chat , un chameau , un cartable . Aber solange sie diese Worte noch nicht zu sinnvollen Sätzen zusammensetzen kann, zieht sie es vor zu schweigen. Erst Wochen später wird mir bewusst, dass niemand im Dorf je ihre Stimme gehört hat.
    An einem Sonntagvormittag gehe ich mit Marijn zum Bäcker im Ort. Es ist ruhig im Geschäft, außer uns stehen dort nur zwei ältere Damen mit geblümten Kittelschürzen über ihren feinen Kleidern. »Ach, guck mal«, höre ich die eine flüsternd zur anderen sagen, während sie einen versteckten Blick auf Marijn werfen. »Das ist dieses behinderte Mädchen.«

6
    Auf den Weinfeldern sind inzwischen winzige Rispen zu sehen, die Trauben sehen aus wie Erbsen. Im Schatten des Mandelbaums vor dem Weinkeller unterhalten sich Siebe und Bruno. Neben ihnen, hinter dem Traktor, steht ein großer, gelber Apparat, aus dem Schläuche herausragen, die auch zu einem Staubsauger gehören könnten. Die Maschine ist nagelneu, die Aufkleber darauf noch

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